Tief gespalten

Auch wenn eine Mehrheit der Briten mit asiatischem Hintergrund sowie der muslimischen Wähler gegen den Brexit gestimmt hat, war immerhin ein Drittel dafür, die EU zu verlassen. Thomas Bärthlein berichtet aus London über ihre Beweggründe und wachsende Besorgnisse um die negativen Auswirkungen des Referendums für Großbritanniens ethnische Minderheiten.

Von Thomas Bärthlein

"Ich war in Greenwich im Park spazieren und ging an zwei Teenagern vorbei, als sie plötzlich skandierten: 'Du musst gehn, du musst gehn'. Und dann hörte ich, wie eine Frau zu einer anderen sagte: 'Ach, ich glaube nicht, dass Brexit mit Rassismus zu tun hat'. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte", postete Apoorva Mishra aus London am vergangenen Wochenende auf Facebook. Als Sechsjährige aus Indien eingewandert, ist sie britische Staatsbürgerin und insofern gewiss nicht von eventuellen Veränderungen der Zuwanderungsbestimmungen nach dem Brexit betroffen.

Und dennoch sind besonders die sozialen Medien voll von solchen Berichten, vor allem der Britisch-Asiaten. "Offenbar erleben wir gerade auf den Straßen eine Art paranoide Reaktion, wo einige Brexit-Anhänger einfach alle Minderheiten anschreien", sagt Shakuntala Banaji, die an der London School of Economics Medienwissenschaften unterrichtet. "Und natürlich sind sichtbare Minderheiten wie Südasiaten oder muslimisch aussehende Menschen die Hauptleidtragenden dieser Übergriffe. Ich selbst bin am letzten Freitagabend auf einem Bahnhof rassistisch beleidigt worden, was mir seit zwanzig Jahren nicht passiert ist.“

Mohammad Aslam Ijaz, Kuratoriumsvorsitzender des South London Islamic Centre und langjähriger Labour Party-Aktivist, ist in den Sechzigerjahren aus Pakistan eingewandert. Die Atmosphäre, die die Brexit-Kampagne geschaffen hat, erinnert ihn an den Hass vor den Rassenunruhen vergangener Jahrzehnte. "Da werden die gleichen Gefühle geschürt wie damals. Und dazu kommt noch die Islamophobie, die auch gefördert wird."

Ijaz war gegen den Brexit und ist stolz, dass sein Stadtbezirk Lambeth mit fast 80 Prozent dagegen gestimmt hat. Landesweit waren einer Umfrage am Wahltag zufolge zwei Drittel der Briten asiatischer Herkunft und 70 Prozent der Muslime dagegen, die EU zu verlassen.

Großbritanniens konservative Politikerin Priti Patel; Foto: Reuters/N. Hall
An vorderster Front für den Brexit: Priti Patel, Mitglied des Unterhauses und Staatsministerin für Arbeit, war das wohl präsenteste asiatische Gesicht in der gesamten Debatte.

Warum votierten Asiaten für Brexit?

Das sei aber ohnehin zu erwarten gewesen, so Jill Rutter vom Think Tank British Future, wenn man die demographischen Besonderheiten berücksichtige – Britisch-Asiaten sind jünger als die Gesamtbevölkerung und überdurchschnittlich in Großstädten zu finden: beides Faktoren, die eine Ablehnung des Brexit begünstigen. Die interessantere Frage ist also vielleicht, warum trotz allem ein Drittel für den Brexit war – insbesondere wenn man bedenkt, dass im Wahlkampf die Begrenzung der Zuwanderung ein Hauptargument der EU-Gegner war.

Beobacher sind sich über eine Reihe von Gründen einig, die Asiaten für den Brexit eingenommen haben. Zum Teil hat eine Studie des Think Tanks Runnymede Trust diese Tendenzen schon vor Monaten ausgemacht.

"Britisch-Inder eher aus der Mittelschicht, vielleicht seit einer Generation hier ansässig, haben gegen die EU gestimmt, um eine Mauer gegen andere Minderheiten aufzubauen, die jetzt kommen und, wie sie es sehen, Großbritannien arm machen", so Shakuntala Banaji. "Sie haben also die Botschaft der knappen Mittel und Arbeitsplätze übernommen. Und die Argumente der konservativen Politikerin Priti Patel, die dafür warb, dass mehr talentierte junge Inder nach Großbritannien kommen sollten [an Stelle der Osteuropäer]." Priti Patel, Mitglied des Unterhauses und Staatsministerin für Arbeit, war das wohl präsenteste asiatische Gesicht in der gesamten Debatte.

Rashid Razaq, britisch-asiatischer Autor und Journalist bei der Londoner Zeitung Evening Standard, bestätigt, dass Minderheiten sich in ihrem Wahlverhalten immer mehr der Mehrheit annähern, je länger sie im Land leben. Das gilt nicht nur für wohlhabendere Inder. "In den Städten im Norden Englands sind die Asiaten seit vielleicht 50, 60 Jahren ansässig, aber nicht über die unterste Stufe der Gesellschaft hinausgekommen." Es habe manche verleitet, für den Austritt zu stimmen, "wenn sie neuere Einwanderer sehen, die vielleicht nicht die gleichen Probleme wie sie haben, was etwa die Hautfarbe angeht."

Razaq gibt auch zu bedenken, dass Briten asiatischer Herkunft weniger Verbindungen nach Europa hätten als die Mehrheitsgesellschaft. Sie reisten einerseits häufig eher in die Herkunftsländer als auf den europäischen Kontinent. Andererseits sei auch die Vorstellung weit verbreitet, dass sie es in anderen EU-Ländern schwerer hätten als im Vereinigten Königreich. "Großbritannien hat es, wegen der kolonialen Vergangenheit, leichter gehabt, seine multikulturelle Identität zu akzeptieren als andere europäische Länder. Deswegen fühlen sich Schwarze oder Asiaten wohler mit der britischen Identität."

Transparent aus dem Brexit-Wahlkampf in Großbritannien; Foto: Sunny Hundal
Fantastereien und geschürte Ängste: Im Brexit-Wahlkampf tauchte u.a. ein bizarres Transparent der EU-Gegner auf, um religiöse Minderheiten vom Brexit zu überzeugen, da die angeblich EU plane, Turbane und Kopftücher zu verbieten.

Eine Reihe britischer Asiaten waren am Tag nach der Volksabstimmung im Fernsehen zu sehen, wie sie ihre Pro-Brexit-Entscheidung bedauerten. Ein Mangel an ausgewogener Information hat dazu beigetragen, argumentiert Shakuntala Banaji. "Mein derzeitiges Forschungsprojekt zur EU hat ergeben, dass fast alle Schulbücher wenig Positives und wenig Erklärungen zur EU enthalten. Und die Hauptquelle für Informationen über die EU sind die Äußerungen von Politikern über die Medien. Als Medienwissenschaftler beobachten wir seit Jahren die Tendenz, dass die Medien ganz überwiegend Schlechtes über die EU berichten."

Zuwanderung und Rassismus – eine schwierige Debatte

Brexit-Gegner warfen den Befürwortern regelmäßig vor, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Vorschub zu leisten – insbesondere Nigel Farage und seiner rechtspopulistischen Partei UKIP. Und die Zunahme rassistischer Vorfälle seit der Abstimmung scheint dieser Kritik in gewisser Weise recht zu geben.

Viele Brexit-Anhänger wiederum reagierten empört auf die Rassismus-Vorwürfe. Wenn Britisch-Pakistaner oder –Bangladeschis für den Brexit sind, weil sie sich von neuen Immigranten aus Polen oder Rumänien bedroht fühlen, kann man sie dann Rassisten nennen? Jill Rutter von British Future findet ihre Besorgnisse legitim und sagt, Politiker müssten sie ernst nehmen. Die Brexit-Kampagne habe "einige Spannungen sichtbar gemacht und auch, dass wir nicht wirklich über die Zuwanderungs-Ängste von Minderheiten, die schon länger hier leben, gesprochen haben."

Ukip-Vorsitzender Nigel Farage; Foto: Reuters/V. Kessler
Triumph für "Mister Brexit": Der Rechtspopulist Nigel Farage von der Unabhängigkeitspartei Ukip sprach von einem "Sieg für die einfachen Leute": "Wir haben eine scheiternde politische Union zurückgelassen", sagte Farage mit Blick auf die EU. "Der euroskeptische Geist ist aus der Flasche - und er wird dorthin nicht zurückkehren!"

Rashid Razaq warnt ebenfalls vor Vereinfachungen. "Auf beiden Seiten haben eine Menge Weiße über Rassismus gesprochen. Aber man hat wenig von ethnischen Minderheiten gehört, wie sie Rassismus empfinden oder was das ist. Manchmal fühlen sich die Minderheiten da ein wenig bevormundet."

"Ich sage auch nicht, dass alle Menschen, die Sorgen über Zuwanderung haben, notwendigerweise selbst Rassisten sind", so Banaji. "Aber leider ist das Argument, das Migranten für Krisen verantwortlich macht, ein rassistisches Argument."

Eine gespaltene Gesellschaft

Weiße und asiatische Arbeiter in Nordengland würden gezielt gegeneinander ausgespielt, glaubt Banaji. "Leider haben verschiedene Bevölkerungsgruppen, die vom reichen Establishment und den Zeitungen attackiert worden sind, sich deren Kritik am jeweils anderen zu eigen gemacht. Sie wurden dazu gebracht, gegeneinander zu stimmen und gegen ihre eigenen Interessen. In den Medienwissenschaften ist das ein bekanntes Phänomen, das Resultat von jahrelanger Propaganda."

Es gibt nicht viel, worüber sich Großbritannien nach dem Referendum noch einig ist. Dass das Land tief gespalten ist, ist eine solche Gewissheit. Wie lange das feindselige Klima gegenüber Minderheiten anhält, lässt sich jedoch schwer voraussagen. "Vielleicht beruhigt sich die Lage wieder", sagt Shakuntala Banaji und hofft darauf, dass die tief verwurzelte multikulturelle Politik der Fremdenfeindlichkeit Einhalt gebieten kann.

Rashid Razaq ist also vorsichtig mit Prognosen. Der Brexit-Prozess werde sich über mehrere Jahre hinziehen. Man müsse die Sache im Auge behalten, meint er. "Und besonders für uns hier in London ist die wichtigste Lektion, dass wir uns mehr darum kümmern müssen, was im restlichen England passiert. Es ist ein gespaltenes Land, und nicht nach ethnischen Trennlinien. Es geht hierbei mehr um regionale und soziale Unterschiede."

Thomas Bärthlein

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