Preußentour ins Land der Pharaonen 

Vor 180 Jahren schickte der preußische König eine wissenschaftliche Expedition an den Nil. Ihre Ausbeute war bahnbrechend für die Entwicklung der Ägyptologie. Das zeigt eine Ausstellung auf der Berliner Museumsinsel. Von Andreas Kilb 

Von Andreas Kilb

Am 15. Oktober, einem Samstag, setzen die sechs Reisenden aus Deutschland und ihre beiden englischen Begleiter oberhalb von Kairo über den Nil und reiten am Westufer nach Gizeh. Dort erklimmen sie die Cheopspyramide, denn es gilt, einen besonderen Anlass zu feiern. 



Heute ist der Geburtstag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm, und um ihn zu begehen, hat die Reisegruppe nicht nur einen Picknickkorb und eine Fahne mitgebracht, die unter Hochrufen auf dem Gipfelplateau enthüllt wird, sondern auch eine Gedenktafel in Hieroglyphenschrift. "So sprechen die Diener des Königs, des Name Sonne und Fels Preußens ist, Lepsius der Schreiber, Erbkam der Architekt, die Brüder Weidenbach die Maler, Frey der Maler, Franke der Former, Bonomi der Bildhauer, Wild der Architekt: Heil dem Adler, Schirmer des Kreuzes . . .“ 

Es ist das Jahr 1842. Anfang September sind die Teilnehmer der Expedition in Alexandria gelandet, drei Wochen später ha­ben sie mit Kisten voller Bü­cher, Karten, Zeichenutensilien, Messinstrumente, Brillen und einem Daguerreotyp (das am Ende unbenutzt bleibt) die ägyptische Hauptstadt er­reicht. Die Pyramidenbesteigung ist der symbolische Höhepunkt ih­res Aufenthalts.

Aus dem Ertrag der Expedition: Wandbemalung aus dem Grab des Prinzen Merib in Gizeh, Aquarellzeichnung von 1843; Foto: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Aus dem Ertrag der Expedition: Wandbemalung aus dem Grab des Prinzen Merib in Gizeh, Aquarellzeichnung von 1843. Die Ausstellung "Abenteuer am Nil. Preußen und die Ägyptologie 1842–45", die die Ägyptensammlung der Staatlichen Museen zum 180. Jahrestag der preußischen Expedition an den Nil im Neuen Mu­se­um auf der Mu­se­ums­in­sel eingerichtet hat, dokumentiert eine Expedition, die den An­fang der Ägyptologie als Wissenschaft in Deutsch­land bedeutet.



Der Schweizer Maler Jakob Frey hat die Szene festgehalten: oben die Europäer in Frack und Weste, darunter ih­re einheimischen Begleiter in hellen Leinenkleidern. Die Hü­te werden ge­schwenkt, die Tafel wird in einen Balken am Pyramideneingang eingelassen. Dann be­ginnt die Forschungsarbeit. Sie dauert drei Jahre. 

Beginn der wissenschaftlichen Ägyptologie in Deutschland

Die Ausstellung, die die Ägyptensammlung der Staatlichen Museen zum 180. Jahrestag der preußischen Expedition an den Nil im Neuen Mu­se­um auf der Mu­se­ums­in­sel eingerichtet hat, stand vor der Aufgabe, die Geschichte des Unternehmens zu erzählen, ohne zu einer Vitrinen-Version von "Terra X“ zu werden. Denn die Expedition war ja keine Räuberpistole, sondern der An­fang der Ägyptologie als Wissenschaft in Deutsch­land.



Mehr als 1300 Zeichnungen, fast 7500 Papierabklatsche und Dutzende Gipsabdrücke ägyptischer Re­­liefs, Wandmalereien und Tempelarchitekturen brachten die Reisenden zurück nach Berlin, dazu vermehrten 1900 Originalstücke, die als Geschenk des Gouverneurs Mehmed Ali Pascha an Friedrich Wilhelm IV. gingen, den Objektbestand der königlichen Sammlungen.



Die in zwölf Bänden bis 1859 publizierten "Denkmäler aus Ägypten und Äthiopien“, die den Er­trag der Expedition in Wort und Bild dokumentierten, wurden zum internationalen Standardwerk; viele ihrer Illustrationen und Erläuterungen spiegeln bis heute den Forschungsstand. 

Andererseits gab es auf der Tour der preußischen Experten vom Mittelmeer bis zu den nubischen Fürstentümern am Blauen Nil jede Menge abenteuerlicher Vorkommnisse, manche davon mehr, die meisten weniger erfreulich. Sandstürme tobten, Be­du­inen überfielen das Lager, Krankheiten wüteten unter den Reisenden.


Ein Pharao der 18. Dynastie: Amenophis I. und seine Mutter Ahmes-Nefertari auf einer Grabmalerei des sechzehnten Jahrhunderts vor Christus. Foto: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Ein Pharao der 18. Dynastie: Amenophis I. und seine Mutter Ahmes-Nefertari auf einer Grabmalerei des 16. Jahrhunderts vor Christus. "Die wichtigste Leistung der Ausstellung ist die Neubelebung des Or­tes, den sie bespielt“, schreibt Andreas Kilb. "Sonst bewegt man sich durch die Ägyptenabteilung mit dem antiquarischen Interesse des Flaneurs, und alle Wege münden vor der Nofretete. Jetzt aber fällt ein historisches Streiflicht auf die Be­stände, und man er­kennt, dass ihre Entstehung selbst ein Stück Zeitgeschichte ist.“



Allein die Geschichte des Kindersklaven, den Karl Richard Lepsius, der Leiter der Expedition, von einer sudanesischen Prinzessin ge­schenkt bekam, böte Stoff genug für einen Postkolonialroman neuester Bauart.



Lepsius, der sich weigerte, den Knaben als persönlichen Besitz zu behandeln, legte schon auf der Reise Geld für ihn zurück. In Berlin ließ er Gaber Mariam, der als Christ geboren war, zum Missionar ausbilden. Dabei ging offenbar etwas schief, denn der junge Sudanese wurde ohne offiziellen Auftrag in seine Heimat zurückgeschickt.

Große materielle Ausbeute der Expedition

Den Widerspruch zwischen der wissenschaftlichen Bedeutung und den erzählerischen Möglichkeiten ihres Gegenstands lö­sen die Kuratorinnen Jana Helmbold-Doyé und Silke Grallert in ein entschiedenes So­wohl-als-auch auf. Die keilförmige zweigeteilte Stellwand im Griechischen Hof des Neuen Museums, die die Ausstellung eröffnet, gibt das Geschehen der Expedition in Kladdenform wieder, auf der einen Seite die politischen und organisatorischen Vo­raus­set­zun­gen, auf der anderen die Biographien der Teilnehmer.



Dabei wird das Faktenwissen mit Schnickschnack angereichert, wenn wir etwa erfahren, dass "0“ Flugzeuge und Smartphones, aber 68 Dromedare und 130 Briefe zum Erreichen des Forschungsziels beitrugen. 

Zugleich stehen zwei Hauptobjekte aus der materiellen Ausbeute der Expedition direkt gegenüber: die Palmsäule aus der Westkolonnade des Isistempels auf der Nilinsel Phi­lae und der Widder aus dem Tempel des Amun-re in der nubischen Stadt Napata. Um die Säule fortschaffen zu können, ließ Lepsius die Archi­travblöcke da­rü­ber abtragen.



Beim Ab­trans­port dreier Grabkammern aus Gizeh, die heute zu den Höhepunkten des Neuen Museums zählen, ging er nicht weniger rabiat vor. Eine Generation später wäre dieser Antikenraub un­denk­bar ge­we­sen, aber zu Zeiten Mehmed Alis, der die Preußen pri­vi­le­gier­te, um sich Franzosen und Engländer vom Leib zu halten, war er gängige Praxis.

Relief des nubischen Königs Natakamani und der Königin Amanitore, um 50 nach Christus; Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Ägyptisches Museum
Relief des nubischen Königs Natakamani und der Königin Amanitore, um 50 nach Christus. Lepsius schaffte zahlreiche Objekte aus Ägypten nach Preußen. Zwei Hauptobjekte aus der materiellen Ausbeute der Expedition stehen sich in der Ausstellung direkt gegenüber: die Palmsäule aus der Westkolonnade des Isistempels auf der Nilinsel Phi­lae und der Widder aus dem Tempel des Amun-re in der nubischen Stadt Napata. Um die Säule fortschaffen zu können, ließ Lepsius die Archi­travblöcke da­rü­ber abtragen. Beim Ab­trans­port dreier Grabkammern aus Gizeh, die heute zu den Höhepunkten des Neuen Museums zählen, ging er nicht weniger rabiat vor. Eine Generation später wäre dieser Antikenraub un­denk­bar ge­we­sen, aber zu Zeiten Mehmed Alis, der die Preußen pri­vi­le­gier­te, um sich Franzosen und Engländer vom Leib zu halten, war er gängige Praxis.



Als Lepsius, in­zwischen Mu­se­ums­leiter, 1866 abermals nach Ägypten reist, bringt er keine Beutestücke mehr mit, dafür entdeckt er das dreisprachige Kanopus-Dekret, das nach dem Rosetta-Stein wichtigste Instrument zur Entzifferung der Hieroglyphenschrift. 

In diesem doppelten Rhythmus marschiert die Ausstellung weiter: einerseits die Originalobjekte, Zeichnungen und farbigen Abklatsche, mit deren Be­trach­tung man nicht nur Stunden, sondern ganze Tage verbringen könnte, andererseits die Nachrichten aus dem Expeditionsjournal, tabellarisch aufbereitet.



Ein Teilnehmer hat Zahnweh, ein anderer fällt vom Esel, ein dritter bricht sich den Arm, und die Hälfte der Truppe hat Dysenterie. Dass Lepsius, von Malaria und Koliken gebeutelt, nach seiner Rückkehr noch fast 40 Jahre weiterlebt, ist ein preußisches Wunder; dass er den Gipsformer Franke feuert, nachdem dieser einen Fundkomplex durch Sprengversuche beschädigt und offen gegen ihn rebelliert hat, dagegen ein Ausweis seiner Führungsqualitäten. Befehl und Gehorsam sind in der Wissenschaft überflüssig; auf Reisen durch herrschaftsfreie Räume gehören sie zu den Überlebensstrategien. 

Die wichtigste Leistung der Ausstellung ist die Neubelebung des Or­tes, den sie bespielt. Sonst bewegt man sich durch die Ägyptenabteilung mit dem antiquarischen Interesse des Flaneurs, und alle Wege münden vor der Nofretete. Jetzt aber fällt ein historisches Streiflicht auf die Be­stände, und man er­kennt, dass ihre Entstehung selbst ein Stück Zeitgeschichte ist. Das Haus, in dem sie ihren Platz fanden, war 1842 schon im Bau, und Lepsius wurde 13 Jahre später sein Direktor. Mit seiner Berufung erfüllte sich der Zweck der Expedition. Auch dafür hatte der König, der sie bezahlte, gesorgt: durch den Auftrag für das Neue Museum. 

Andreas Kilb 

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023

Abenteuer am Nil. Preußen und die Ägyptologie 1842–45. Neues Museum, bis zum 7. März 2023.