Verrat am Hindukusch?

DW-Special 20 Jahre Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan; Foto:picture-alliance/dpa/Anja Niedringhaus
DW-Special 20 Jahre Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan; Foto:picture-alliance/dpa/Anja Niedringhaus

Die USA und die Nato wollen bis September aus Afghanistan abziehen. Die Operation ist riskant und der Ausgang ungewiss. Viele Afghanen fürchten den Bürgerkrieg. Auch Deutschland wird das Beben am Hindukusch zu spüren bekommen, meint Stefan Weidner in seinem Kommentar.

Von Stefan Weidner

Keine drei Monate nach der Amtsübernahme hat US-Präsident Joe Biden das bis jetzt gefährlichste Manöver seiner Amtszeit angekündet: Zum 11. September, dem 20. Jahrestag der Terrorangriffe auf New York und Washington, wollen die USA ihre Truppen aus Afghanistan abziehen. Mit der Erinnerung an 9/11 wird der Abzug zum symbolischen Abschluss einer Epoche des Anti-Terrorkampfs, der Regimewechsel-Operationen und des Nation-Building. Aber der Abzug kommt einem Scheitern gleich.

Friedhof der Imperien

Nach 9/11 konnte keine der großspurigen Ambitionen der damaligen Bush-Regierung im Nahen und Mittleren Osten verwirklicht werden. In der Region geben heute Iran, Russland, die Türkei, die arabischen Golfstaaten und Israel den Takt vor. Damit endet ein weiteres Kapitel der Geschichte auf dem "Friedhof der Imperien“, wie die Briten Afghanistan im 19. Jahrhundert nannten.

1989 hatten die Sowjets nach zehn Jahren Krieg demoralisiert abziehen müssen. Ein Jahr später brach der kommunistische Ostblock zusammen. Die amerikanische Strategie im Kalten Krieg, den militanten Islam gegen den Kommunismus aufzurüsten, war aufgegangen. Mit ihr aber auch die Saat, die schließlich die USA selbst in ihren Grundfesten erschütterte: Osama Bin Laden, der Drahtzieher der Anschläge, und seine Al Qaida-Organisation waren im dschihadistischen Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan groß und übermütig geworden. Nachdem die Sowjets vertrieben waren, nahmen sie sich die letzte verbliebene Großmacht vor, die USA.

Afghanistan-Konflikt US-Army; Foto: Getty Images/AFP/W.Kohsar
US-Soldat im Afghanistan-Einsatz: Keine drei Monate nach seiner Amtsübernahme hat US-Präsident Joe Biden den Abzug der amerikanischen Soldaten angekündigt. Zum 11. September, dem 20. Jahrestag der Terrorangriffe auf New York und Washington, wollen die USA ihre Truppen aus Afghanistan zurück nach Hause holen. Das sei das "bis jetzt gefährlichste Manöver seiner Amtszeit“, schreibt Stefan Weidner in seinem Kommentar. "Mit der Erinnerung an 9/11 wird der Abzug zum symbolischen Abschluss einer Epoche des Anti-Terrorkampfs, der Regimewechsel-Operationen und des Nation-Building. Aber er kommt einem Scheitern gleich.“ Keine der großspurigen Ambitionen der damaligen Bush-Regierung im Nahen und Mittleren Osten hätte verwirklicht werden können.

Berechtigter Einsatz. Doch dann?

Die brutalen, von Bin Laden aus Afghanistan koordinierten Terroranschläge hatten den USA keine Wahl gelassen, als die Taliban zu vertreiben. Diese hatten Bin Laden Unterschlupf gewährt und weigerten sich hartnäckig, ihn auszuliefern. Bin Laden blieb verschwunden, aber die Taliban wurden besiegt. Um ihre Wiederkehr zu verhindern, sollte Afghanistan in ein funktionierendes Land mit einer fortschrittlichen Verfassung und westlich orientierten Menschen verwandelt werden, ein Vorzeigebeispiel für das sogenannte Nation-Building. Dass dieses Projekt gescheitert ist, war vielen Beobachtern seit langem klar.

Daher ist die Entscheidung Bidens, sich aus dem Land zurückzuziehen, zunächst nachvollziehbar. Der 20 Jahre währende Einsatz ist der längste Militäreinsatz der amerikanischen Geschichte. Die Kriegsmüdigkeit der USA war in Gestalt von Trump, der die Friedensverhandlungen mit den Taliban begonnen hatte, unübersehbar geworden. Im Übrigen hätten die Amerikaner ihr eigentliches Ziel ja erreicht, betonte Biden: Dass Afghanistan nicht mehr zur Basis für Angriffe gegen die USA werde.

Die Taliban auf dem Vormarsch

Allerdings hätten dieser Logik zufolge die USA bereits 2011 abziehen müssen, als Biden Vizepräsident war und Bin Laden in Pakistan aufgespürt und getötet wurde. Dass man die Afghaninnen und Afghanen damals nicht sich selbst überließ, hatte einen guten Grund: Die Taliban waren bereits wieder auf dem Vormarsch. Obama erhöhte die Truppenpräsenz auf 100.000 Soldaten. Die Taliban setzten sich trotzdem fest. Heute sind sie die inoffiziellen Herrscher über weite Teile des ländlichen Afghanistan. Auch in Kabul ist niemand mehr vor ihnen sicher.

Der Abzug ist damit nicht nur ein Eingeständnis des Scheiterns der größeren und nobleren Pläne für das Land. Er ist ein Akt von politischem Egoismus auf dem Niveau von Bidens Vorgänger, Donald Trump. Er ist ein Verrat an weiten Teilen der afghanischen Bevölkerung, an all jenen Menschen, die den Versprechungen des Westens und seinen Werten geglaubt und versucht haben, eine bescheidene Form von Freiheit zu leben. Unter ihnen ist die Angst vor den Taliban, vor Rache und Repressalien groß.

Afghanistan, Autobombe in Kabul ARCHIV; Foto: picture-alliance/AP Photo/R. Gul
Anschlag mit Autobombe in Kabul. Unter den Afghaninnen und Afghanen wächst die Angst vor der Zukunft nach dem Abzug von NATO und USA. Das betrifft vor all jene Menschen, die den Versprechungen des Westens und seinen Werten geglaubt haben. Sie hätten versucht, eine bescheidene Form von Freiheit zu leben und müssten sich nun vor der Rache und den Repressionen der Taliban fürchten, schreibt Stefan Weidner.

Zurecht, machen Reportagen und offizielle Berichte aus Afghanistan klar. Auch die vielen Milliarden Hilfsgelder, die in Afghanistan investiert worden sind, müssen jetzt abgeschrieben werden. Von zahlreichen guten Infrastrukturprojekten profitiert 20 Jahre nach 9/11 eine der destruktivsten Gruppierungen, die der zeitgenössische Islam hervorgebracht hat.

Angst vor der Zukunft

Ist diese pessimistische Einschätzung nicht Schwarzmalerei? In der Theorie scheint es gut, sich aus fragwürdigen Auslandseinsätzen zurückzuziehen. Tut man dies ohne realistische Perspektive für die Zeit danach, stiehlt man sich jedoch aus der Verantwortung. Man werde die gewählte afghanische Regierung weiterhin unterstützen, sagte Biden. Zur Not auch mit Spezialkräften, Langstreckenbombern und Drohnen.

Die Amerikaner bauen darauf, dass die Taliban kein Interesse an einer Eskalation haben, zumindest die gemäßigten unter ihnen. Aber es gibt auch andere; und der afghanische Ableger des IS sitzt den Taliban schon im Nacken. Man kann nur hoffen, dass Pakistan, welches die Taliban einst unter afghanischen Flüchtlingen rekrutierte, noch ausreichend Einfluss auf sie hat, um sie vom offenen Sturm auf Kabul abzuhalten. Aber Pakistan steht selbst unter dem Druck starker islamistischer Kräfte. Erst letzte Woche legten Anhänger einer radikalislamischen Partei den Verkehr in Lahore und Karachi lahm und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Statt die Taliban zu kontrollieren, könnte die Atommacht Pakistan deren nächstes Ziel werden.

Am wahrscheinlichsten ist jedoch ein neuer afghanischer Bürgerkrieg. Er wird eine humanitäre Katastrophe sein und Fluchtbewegungen nach sich ziehen, die Europa spüren wird. Schon heute sitzen viele Afghaninnen und Afghanen auf gepackten Koffern. Wer es sich leisten kann, der geht. Wer mit dem Westen zusammengearbeitet hat, wird bedroht. Werden wir die vielen Afghanen, mit denen die Bundeswehr in den letzten zwei Jahrzehnten zusammengearbeitet hat, aufnehmen und retten können?





Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hat das Problem erkannt und will ihnen die Einreise ermöglichen. Das muss aber auch für die bedrohten Mitarbeiter der dem Bundesentwicklungsministerium unterstehenden Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und deutschen Nichtregierungsorganisationen gelten. Wie das praktisch gehen soll, steht derweil in den Sternen: Aktuell müssen Afghanen, die ein Visum für Deutschland beantragen möchten, dafür eigens nach Delhi reisen, eine Folge des Anschlags auf die deutsche Botschaft in Kabul 2017. Wer kann sich das leisten?

"Unsere Sicherheit am Hindukusch“

Die Amerikaner werden sich nach dem 11.9.2021 zurücklehnen können. Ihre Soldaten sind dann zuhause. Die Taliban werden sich hüten, die USA direkt anzugreifen. Und kein afghanischer Flüchtling wird es ohne Visum über den Atlantik schaffen. Die Stoßwellen des Erdbebens am Hindukusch werden zuerst Afghanistans labile Nachbarstaaten erreichen: Iran, Pakistan und die Kaukasusrepubliken.

Dann, in Form von Flüchtlingen, die Türkei, der Balkan und Europa. Wer geglaubt hat, dass mit Biden eine neue, Europas Interessen berücksichtigende US-Außenpolitik beginnt, dürfte bald eines Besseren belehrt sein. "Unsere Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt“, sagte 2002 der inzwischen verstorbene Verteidigungsminister Peter Struck (SPD). Wenn in diesem Spruch je ein Körnchen Wahrheit steckte, dürfen wir uns auf unsichere Zeiten einstellen.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2021

Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Zuletzt erschienen: "Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart“, Hanser Verlag, München 2021