Terrorismus ist kein Denksystem: Tahar Ben Jellouns neues Buch «Papa, was ist ein Terrorist?»

Paris, Brüssel, Nizza, Wochen voller Gewalt in Deutschland. Jedes Mal, wenn Terror oder Amokläufe die Welt erschüttern, stehen Eltern, Paten und Erzieher vor der Frage: Was sage ich den Kindern? Wie erkläre ich ihnen etwas, das doch niemand ganz versteht? Mit dieser Frage hat sich der marokkanischstämmige Schriftsteller Tahar Ben Jelloun befasst. Sein Buch «Papa, was ist ein Terrorist?» erscheint an diesem Dienstag (4.10.2016).

Für den Autor, der als bedeutendster Vertreter der französischsprachigen Literatur des Mahgreb gilt, ist die Lage klar: «Wir müssen unseren Kindern die Wahrheit sagen», schreibt er. Wer Kinder belüge, setze ihr Vertrauen aufs Spiel. Zudem könne jeder Versuch, zu verstehen und zu erklären, auch den Erwachsenen nur gut tun: «Die Zeit, in der die Gefühle vorherrschen, muss überwunden werden, damit wir zum Wesentlichen vordringen können, zu den Fakten.»

Der 71-Jährige schreibt nicht nur als Künstler oder Islam-Experte. Er ist auch unmittelbar Betroffener: Beim Attentat auf die Redaktion des Satiremagazins «Charlie Hebdo» im Januar 2015 verlor Jelloun zwei Freunde; seine Großnichte fiel ein Jahr später einem Anschlag in Ouagadougou zum Opfer. Schon lange davor hat sich der Autor mit drängenden Fragen der Zeit befasst.

Dem deutschen Publikum ist der schreibende Psychotherapeut vor allem bekannt durch den Bestseller «Papa, was ist ein Fremder?» (2000). 2003, nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York und nach Ausbruch der Kriege im Irak und in Afghanistan, erschien «Papa, was ist der Islam?» - ebenfalls ein internationaler Verkaufserfolg. Unmittelbar nach «Charlie Hebdo» veröffentlichte er die Essaysammlung «Der Islam, der uns Angst macht».

Sein neues Buch ist in Jellouns typischer Stilform, als fiktives Gespräch zwischen Vater und Teenager-Tochter, gehalten. Die Dialoge kommen leichtfüßig daher und enthalten zugleich deutliche Botschaften. Bei Terrorakten kämpfe nicht eine Zivilisation gegen eine andere, betont Jelloun; der Terror sei «eine Handlungsweise, kein Denksystem». Daraus spricht kein Gefühl der Überlegenheit. Im Gegenteil: Die Demokratie sei auf derartige Angriffe nicht vorbereitet, beklagt der Schriftsteller: «Das schwache, schwammige Europa ist voller Löcher.»

Auf 120 Seiten wird ein weiter historischer Bogen gespannt. Als Wendepunkt des Verhältnisses zwischen westlicher und islamischer Welt gilt hier nicht der 11. September 2001, vielmehr beschreibt der Autor eine schleichende Entwicklung seit den 1960er Jahren: die Iranische Revolution, erste Anzeichen von Fanatismus, schließlich die Fatwa gegen den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie 1989. Heute gelte «der Muslim, der Araber» als potenzieller Terrorist, konstatiert Jelloun - und dies zu verändern, werde Generationen brauchen.

In der Pflicht sieht der Autor - naheliegend bei seiner Ausgangsfrage - Familie und Schule. Der Kampf gegen den Rassismus müsse stärker in die Lehrpläne integriert werden. Für Eltern gelte es, wachsam zu bleiben, etwa bezüglich Internet-Aktivitäten ihrer Kinder, und ihnen zugleich Verantwortlichkeit zuzutrauen. Eine Herausforderung, räumt der Vater einer Tochter selbst ein.

Von der Gesellschaft wünscht sich Jelloun einen neuen Blick auf die arabische Welt - die es seiner Ansicht nach nicht gibt. «Es gibt arabische Staaten, aber keine vereinte, solide, starke und kohärente arabische Einheit», so der Autor, dessen Sachbuch «Arabischer Frühling» 2011 mit dem Erich-Maria-Remarque-Preis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet wurde. Umgekehrt fordert er Muslime im Westen auf, «auf alle provokativen Signale der Zugehörigkeit zur Religion Mohammeds» zu verzichten.

Offenkundig ist der Gesprächsband ein Versuch, nicht nur dem fragenden Kind, sondern auch sich selbst etwas Unerklärliches zu erklären. Manches erscheint dabei zu vereinfacht, etwa die pauschale Aussage, Glaube habe nichts mit Vernunft zu tun. Dennoch enthält das Werk viel Wissens- und Bedenkenswertes - und es gibt dem Leser das bestärkende Gefühl, nicht allein mit den vielen Fragen zu sein. (KNA)