
Syrien-InterventionWas, wenn? Und wenn nicht?
In den vergangenen Wochen hat die Welt zugeschaut, wie das syrische Regime seine eigenen Bürger ermordet. "Hier begreift niemand, wie die internationale Staatengemeinschaft das dulden kann", klagte Marie Colvin, Reporterin der Sunday Times, kurz bevor sie selbst in Homs getötet wurde.
Heute haben ausländische Regierungen in solchen Fällen ein Mandat zur Intervention. 2001 formulierte die International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) das Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect – R2P). 2005 stimmte der UN-Weltgipfel zu, und 2009 tat das auch die UN-Generalversammlung.
R2P war eine Reaktion auf Traumata in Ruanda, Bosnien, Somalia und anderswo. Dies war vermutlich die wichtigste UN-Innovation der vergangenen Jahre. Betont wird nun Nicht-Gleichgültigkeit statt zuvor Nicht-Einmischung. Wie der Ko-Vorsitzende der ICISS, Gareth Evans, konstatierte, konnte R2P das Leid unserer Mitmenschen nicht länger ignorieren.
Welche Art von Intervention?

Die große Herausforderung liegt darin, zu entscheiden, welche Art von Intervention wann gerechtfertigt ist. All zu oft bestehen Zweifel über die Motive der Interventionsbereiten. Deshalb warnten viele UN-Mitglieder 2009 vor Selektivität und Doppelmoral. Allerdings wäre die Entscheidung falsch, die Staatengemeinschaft dürfe, weil sie nicht überall eingreifen kann, nirgends eingreifen.
China und Russland werfen der NATO vor, Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats zum Schutz von Zivilisten für einen Regimewechsel in Libyen missbraucht zu haben. Ölinteressen sind in Libyen offensichtlich, und die anhaltende Gewalt dort verstört zutiefst.
Andererseits wäre R2P zur hohlen Formel verkommen, hätte die Staatengemeinschaft zugeschaut, wie Muammar Gaddafis Truppen dessen Drohung verwirklichten, alle Gegner in Bengasi zu vernichten. Im Rückblick muss nun genau geprüft werden, wie zumindest ein Teil des folgenden Blutvergießens hätte vermieden werden können.
Der Fall Libyen offenbart das moralische Dilemma: Um zu beurteilen, ob die militärische Intervention legitim war, reicht es nicht, die Fakten zu bilanzieren. Für die Legitimität des Abstandhaltens gilt das ebenso. Es gilt, "Was-wenn"- und "Was-wenn-nicht"-Szenarien zu analysieren.
Wir müssen Leid verhindern, aber zugleich dafür sorgen, dass nicht mehr Leid entsteht, als verhindert wird. Militärisches Handeln zum Schutz von Zivilisten kann geboten sein, aber es gibt auch Argumente für möglichst große Zurückhaltung und diplomatisches Engagement. Beides kann gelingen – oder scheitern.
Fatales Zögern

China und Russland haben im Sicherheitsrat im Februar eine Syrien-Resolution verhindert. Rechtfertigt ihre Interpretation der libyschen Ereignisse wirklich das Stillhalten angesichts der Massaker, die das Assad-Regime verübt? Aus mehreren Gründen zögert die Staatengemeinschaft, in Syrien einzugreifen.
Es gibt Sorgen, es werde so bald nicht zu einer stabilen und friedlichen Ordnung kommen oder die Gewalt werde auf Nachbarländer übergreifen. Libyen zeigt in der Tat, dass Eingriffe in Bürgerkriege heikel sind. Revolutionärer Wandel hat oft Folgen, welche selbst die Revolutionäre weder absehen noch wünschen.
Die Erklärung des Sicherheitsrats bleibt zwar relativ sanft, indem sie "alle Seiten" aufruft, die Gewalt einzustellen, und nur vage "weitere Schritte" androht, sollte Syrien keinen politischen Prozess einleiten. Das reicht nicht, ist aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Militärische Intervention ist nur das allerletzte Mittel. Andere Optionen sind Sanktionen und gezielte Boykotte – aber auch Anreize für Wohlverhalten, zur Not sogar zu Lasten der Ahndung von Verbrechen auf Kosten der Gerechtigkeit. Auf alle Fälle ist geschlossenes Handeln der Staatengemeinschaft nötig.
R2P muss mit großer Verantwortung kollektiv gehandhabt werden. Militärische Intervention ist selten die beste Lösung. Die Souveränität eines Landes ist aber kein akzeptabler Grund mehr abzuwarten, während ein Regime seine eigenen Leute schlachtet.
Henning Melber
© Entwicklung & Zusammenarbeit 2012
Henning Melber ist der geschäftsführende Direktor der Dag-Hammarskjöld-Stiftung in Uppsala, Schweden, und Research Associate der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Pretoria, Südafrika.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Leserkommentare zum Artikel: Was, wenn? Und wenn nicht?
Wegen des begrenzten Raums erfolgt mein Kommengtar in zwei Teilen:
Peter Strutynski30.04.2012 | 17:05 UhrTeil 1:
Der Beitrag von Henning Melber enthält eine Reihe von Fehlinformationen (denen er möglicherweise selbst aufgesessen ist), die zu korrigieren wären.
Erstens ist das Prinzip der Schutzverantwortung mitnichten zu einer allgemein akzeptierten Grundregel der Vereinten Nationen geworden. Die umfassende Studie "Responsibility to Protect" und das darin propagierte Recht, ja, die Pflicht der Staatengemeinschaft auf militärische Intervention, wenn ein "gerechter Grund" vorliegt, ist von der Generalversammlung in ihrem Abschlussdokument 2005 zwar erwähnt worden (Ziffer 138 und 139); diese Erwähnung enthält aber ganz unzweideutig einen Prüfauftrag an die UN-Mitgliedstaaten (Ziff. 139). Ganz abgesehen davon setzen Beschlüsse der Generalversammlung kein neues Völkerrecht.
Zweitens sind die Hinweise auf die Situation in Libyen vor einem Jahr eine sehr einseitige Interpretation, die weniger auf Fakten und mehr auf Vermutungen beruhen. Z.B. Vermutungen darüber, dass Gaddafi mit seiner Absicht, Bengasi wieder einzunehmen, einen Völkermord geplant habe. Die Rede, die dafür herhalten soll, enthält aber die Ankündigung, die bewaffneten Feinde zu schlagen, denen übrigens Straffreiheit zugebilligt wurde, wenn sie die Waffen niederlegten. In einem viel beachteten Artikel für die FAZ hat der Hamburger Jurist Reinhard Merkel das Vorgehen Gaddafis als in Einklang mit dem geltenden Völkerrecht eingestuft und eine Intervention als "illegitim" bezeichnet. Henning Melber hätte in seinem Plädoyer für die Libyen-Intervention auch erwähnen sollen, dass der Krieg seit dem NATO-Einsatz ca. 50.000 libyschen Zivilpersonen das Leben gekostet hat. Nur Kollateralschäden!?
Drittens (Teil 2 folgt)
Teil 2:
Drittens liegen auch im Fall Syrien die Dinge nicht so eindeutig, wie der Autor uns weismachen will. Wir haben es mit einer bürgerkriegsähnlichen Situation zu tun, in der auf beiden Seiten Opfer zu beklagen sind und von Kriegsverbrechen (d.h. Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung und die einschlägigen Genfer Konventionen) von beiden Seiten begangen worden. Sowohl der 6-Punkte-Plan von Kofi Annan als auch die beiden UN-Resolutionen 2042 und 2043 (vom 14. und 21. April 2012) appellieren demnach korrekt an beide Seiten die Gewalt einzustellen.
Peter Strutynski30.04.2012 | 17:19 UhrDie grundlegenden völkerrechtlichen Prinzipien der „Nichteinmischung“ und der „Gleichheit und Souveränität“ der Staaten sowie vor allem des strikten Gewaltverbots (alles enthalten in Art. 2 der UN-Charta) sind hohe Errungenschaften der Staatenwelt, als dass sie heute leichtfertig auf dem Alter individuellen Unwohlseins angesichts allgegenwärtiger Gewaltverhältnisse geopfert werden dürfen. Aus Sicht der NATO war auch der Kosovo-Krieg gerecht (weil er angeblich eine „humanitäre Katastrophe“ verhinderte) und wird seit zehneinhalb Jahren in Afghanistan ein grausamer Krieg geführt. George Bush hat 2003 auch „Gründe“ genannt, um den Irak in Grund und Boden zu bombardieren. Und wird nicht schon die nächste Intervention, diesmal gegen Iran, publizistisch vorbereitet? Von Autoren wie Henning Melber sollte man mehr Kritikfähigkeit gegenüber der herrschenden Politik und gegenüber dem „Hordenjournalismus“ (Günter Grass) erwarten dürfen.
Peter Strutynski, AG Friedensforschung, Kassel