Reporter ohne Grenzen: Pressefreiheit in der Türkei nicht für tot erklären

Der Geschäftsführer von «Reporter ohne Grenzen» in Deutschland, Christian Mihr, fordert die Bundesregierung auf, sich auch nach der Freilassung von Deniz Yücel für die in der Türkei inhaftierten Journalisten einzusetzen. Die Freilassung des «Welt»-Korrespondenten vergangene Woche habe an deren Situation erst einmal nichts geändert, sagte der Menschenrechtsaktivist: «Sicherlich muss man Gesprächskanäle offen lassen. Aber gegenüber einem Land, das weiter in die Europäische Union möchte, muss man eine ganz klare Sprache sprechen und Bedingungen formulieren». Die Regierung dürfe sich von dem «diplomatischen Tauwetter» nicht täuschen lassen. Dominik Speck hat sich mit Mihr unterhalten.

In Deutschland war die Freude über die Freilassung von Deniz Yücel groß. Aber geht davon auch ein Signal an die inhaftierten türkischen Journalisten aus?

Christian Mihr: Ich bekomme oft die Frage gestellt: Was nützt es, laut Solidarität mit den Journalisten in der Türkei zu bekunden? Ich weiß aber aus vielen Gesprächen, die ich in der Türkei geführt habe, dass das sehr viel hilft. Ich hoffe, dass die Welle der Aufmerksamkeit, die es zu Deniz Yücels Freilassung gegeben hat, anhält. In den nächsten Wochen stehen viele Urteile gegen Journalisten an, die vermutlich harsch ausfallen werden. Kurzfristig rechne ich mit einer dramatischen Verschärfung der Repressionen. Und deswegen ist es umso wichtiger, dass wir die Aufmerksamkeit hochhalten.

Was kann die deutsche Regierung tun, um sich weiter für die türkischen Journalisten einzusetzen?

Mihr: Auch die Bundesregierung sollte weiter laut bleiben und sich von dem diplomatischen Tauwetter mit der Türkei nicht täuschen lassen. Sie darf nicht das Signal aussenden, dass mit der Freilassung von Deniz Yücel alle Probleme gelöst seien. Sicherlich muss man Gesprächskanäle offen lassen. Aber gegenüber einem Land, das weiter in die Europäische Union möchte, muss man eine ganz klare Sprache sprechen und Bedingungen formulieren. Mit der Freilassung von Yücel hat sich an der Situation der inhaftierten Menschenrechtsaktivisten und Journalisten erst einmal nichts geändert. Die Entscheidung der türkischen Behörden, Yücel freizulassen, war letztlich genauso willkürlich wie die Entscheidung, ihn zu verhaften.

Unter deutschen Redaktionen war die Solidarität für Deniz Yücel groß. Wie können sie sich weiter für die Journalisten in der Türkei einsetzen? 

Mihr: Redaktionen sollten anstehende Verfahren zum Anlass nehmen, weiter zu berichten und Reporter in den Gerichtssaal schicken, um zu signalisieren: Wir sind hier, wir schauen nicht weg. Zum Beispiel beim «Cumhuriyet»-Prozess, der am 9. März fortgesetzt wird. Ich weiß aus vielen Prozessen: Richter verhalten sich anders, wenn internationale Beobachter im Saal sind. Und das zweite, was dazugehört: Die Pressefreiheit in der Türkei nicht für tot zu erklären. Denn das wäre ein Gefallen, den man Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht tun sollte. Weil wir dann den Journalisten, die in der Türkei weiter ihre Arbeit machen, in den Rücken fallen würden. Das höre ich auch immer wieder als Bitte von türkischen Kollegen. Es gibt ja Zeitungen wie «Cumhuriyet» und «Birgün» oder Onlineportale wie «Diken», die weiterhin kritisch arbeiten. In den kurdischen Gebieten im Südosten des Landes versuchen Journalisten täglich, unter höchst widrigen Bedingungen ihre Arbeit zu machen.

Wie arbeitet «Reporter ohne Grenzen» derzeit in der Türkei? 

Mihr: Unser Repräsentant Erol Önderoglu ist ständig vor Ort. Aber er steht selbst vor Gericht und saß in Untersuchungshaft, deswegen ist die Kommunikation mit ihm viel vorsichtiger geworden. Im vergangenen Jahr gab es sogar eine kurze Phase, in der «Reporter ohne Grenzen» von türkischen Boulevardmedien in die Nähe von Terrororganisationen gerückt worden ist. Das ist wieder vorbei, aber das zeigt, dass wir als Organisation stark wahrgenommen werden. Wir machen ja nicht nur politische Arbeit und Prozessbeobachtungen, sondern wir leisten Nothilfe. Wir unterstützen Angehörige von Journalisten, die in Haft sind. Wir unterstützen Journalisten, die ihre Arbeit verloren haben oder im Exil leben. Und das machen wir natürlich unter schwierigen Bedingungen, weil wir als Organisation als problematisch wahrgenommen werden. (epd)