Zwischen Identität und Politik 

Der Mord an einem Sikh-Separatisten in Kanada und die öffentliche Kritik des kanadischen Premiers Trudeau an Indien hat die Bewegung für einen eigenen Sikh-Staat wieder ins internationale Rampenlicht gerückt. Hintergründe von Mohammad Luqman

Von Mohammad Luqman

Der Punjab, dessen Name sich aus dem persischen Wort für "Fünfstromland" ableitet, gilt seit jeher als die Kornkammer des indischen Subkontinents. Dank ausreichender Bewässerung und einem warmen Klima sind in der Region mehrere Ernten im Jahr möglich. Die idyllischen Dörfer mit ihren traditionellen Lehmhäusern und den üppig grünen Feldern haben im Laufe der Jahrtausende eine einzigartige Kultur hervorgebracht, die die verschiedenen Einflüsse vereint, die den Punjab geprägt haben. 

Im Zuge der Teilung des Subkontinents im Jahr 1947 wurde der mehrheitlich muslimische West-Punjab Teil Pakistans, während der überwiegend von Sikhs bewohnte östliche Punjab Indien zugesprochen wurde. Diese Teilung führte auf beiden Seiten zu Gewaltausbrüchen, Vertreibungen und der Zerstörung von gewachsenen Gemeinschaften.

Trotz dieser traumatischen Ereignisse sind die beiden Teile des Punjab auch nach fast sieben Jahrzehnten der Trennung über Sprache und Kultur tief miteinander verwoben, weit mehr, als die meisten sich vorstellen können. Besonders in der westlichen Diaspora entwickeln sich Sympathien zwischen den Punjabis beider Länder, was vor dem Hintergrund der politischen Lage auf dem Subkontinent kaum vorstellbar erscheint. 

Skh-Aktivisten in Kanada protestieren vor dem indischen Konsulat in Toronto; Foto: Ines Pohl/DW
Nach dem Mord an dem pro-Khalistan Aktivisten Hardeep Singh Nijjar im kanadischen Surrey im Juni dieses Jahres protestieren Sikh vor dem indischen Konsulat in Toronto. Der kanadische Premierminister beschuldigte die indische Regierung öffentlich, direkt am Mord von Nijjar beteiligt gewesen zu sein. Kanadische Geheimdienste verfügten über konkrete Hinweise auf die Beteiligung indischer Agenten am Mord an dem Sikh-Prediger. Indien bestreitet jegliche Beteiligung und wirft im Gegenzug Kanada vor, Sikh-Terroristen zu beherbergen. 



In Bollywood-Filmen wird der Punjab oft als Heimat der lebensfrohen Sikh-Minderheit dargestellt. Die Sikhs sind eine synkretistische Religionsgemeinschaft; ihr Glaube vereint Elemente aus Islam und Hinduismus und geht auf Guru Nanak Dev zurück, einen Asketen und Heiligen des 16. Jahrhunderts. Ab dem 18. Jahrhundert eroberten verschiedene Sikh-Milizen größere Teile des Punjab und gründeten ein eigenes Reich, das 1849 von der britischen Kolonialherrschaft erobert wurde.

Anfang des 20. Jahrhunderts entstand unter dem Sikh-Führer Jagjit Singh Chauhan im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung in Indien eine erste nationalistische Sikh-Bewegung mit der Forderung nach einem eigenen Sikh-Staat "Khalistan" in großen Teilen des Punjab. 

Sikh-Nationalismus  

Obwohl solche Bestrebungen mit der Eingliederung des östlichen Punjabs in Indien vorerst endeten, blieb die Idee eines eigenen Staats bei vielen Sikhs populär. In den 1980er Jahren erlebte die separatistische Khalistan-Bewegung eine Renaissance.

Auseinandersetzungen zwischen Sikh-Aktivisten und dem indischen Staat sowie die von der Zentralregierung angeordnete Teilung des indischen Punjab führten unter den Sikhs zu einem wachsenden Gefühl der Marginalisierung. Die Khalistan-Bewegung erhielt auch von der Sikh-Diaspora im Westen vielfache finanzielle Unterstützung.

Die schlechte wirtschaftliche Lage im Punjab und die hohe Jugendarbeitslosigkeit unter den Sikhs heizten die Stimmung zusätzlich an. Ab 1982 erlebte der Punjab eine Welle der Gewalt von Sikh-Separatisten.

Als einige von ihnen 1984 im Goldenen Tempel von Amritsar Zuflucht fanden, befahl die indische Premierministerin Indira Gandhi die Erstürmung des Heiligtums durch die Armee. Die Operation Blue Star, wie der Angriff genannt wurde, dauerte fast zehn Tage.

In Dehli protestieren Menschen gegen den Mord an dem Sikh Sidhu Moosewala; Foto:  Kabir Jhangiani/Pacific Press/picture alliance
Proteste in Dehli gegen die Emordung eines Sikh-Aktivisten: Der Rapper und Aktivist Sidhu Moose Wala wurde am 29. Mai auf einem belebten Marktplatz im Distrikt Mansa in der indischen Provinz Punjab erschossen, einen Tag nachdem die Regierung der Provinz seinen Personenschutz gelockert hatte. Wer für den Mord verantwortlich ist, blieb im Dunkeln. Die Regierung sprach von Gewalt unter kriminellen Gangs. Doch auffällig ist, dass die hindunationalistische BJP-Regierung immer härter gegen Kritiker und Oppositionelle vorgeht.



Der Einsatz schwerer Artillerie führte zur Zerstörung großer Teile der Tempelanlage, was die Sikhs besonders empörte. Als Reaktion darauf ermordeten Sikh-Leibwächter die indische Premierministerin Indira Gandhi.

Der Mord wiederum löste landesweite Pogrome von Hindus gegen die Sikh-Minderheit aus, bei denen erneut Tausende vertrieben oder getötet wurden. Nur mit Mühe bekam die Regierung die Gewalt unter Kontrolle. In der kollektiven Erinnerung der Sikh-Minderheit bleibt die Operation Blue Star bis heute ein tiefes Trauma und eine der düstersten Episoden ihrer Geschichte. 

Wachsende Unzufriedenheit im Punjab 

In den 1990er Jahren ließ die Unterstützung für die Khalistan-Bewegung allmählich nach. In den letzten Jahren hat die Bewegung jedoch unter der hindunationalistischen BJP-Regierung wieder an Popularität gewonnen. Grund dafür ist die von der BJP betriebene Politik der "Hinduisierung" Indiens. Viele Sikhs befürchten dadurch eine weitere Marginalisierung ihrer Minderheit, ähnlich wie es derzeit andere religiöse Minderheiten in Indien wie zum Beispiele Muslime erleben. 

Ein deutlicher Ausdruck dieser Unzufriedenheit waren die Proteste gegen die angekündigten Landwirtschaftsreformen von Premierminister Modi im Jahr 2021. Sikh-Bauern aus dem Punjab sahen durch die Reformpläne ihre Existenzgrundlage bedroht. Seitdem haben Sikh-Separatisten wieder an Zuspruch gewonnen, wie der Fall des Sikh-Predigers Amritpal Singh zu Beginn dieses Jahres zeigt.

Der 30-jährige Singh ist ein populärer Prediger, der sich in der Tradition der Khalistan-Bewegung sieht. Zu Beginn des Jahres suchte die indische Regierung mit tausenden Polizisten und Paramilitärs nach dem beliebten Prediger, dem sie separatistische Umtriebe vorwarf. Seine Verhaftung imApril ist ein Zeichen für das schärfere Vorgehen der BJP-Regierung gegen politische Aktivisten und Kritiker im eigenen Land. 

 

 

Diplomatische Spannungen  

In dieses Raster fallen auch mehrere spektakuläre Ermordungen von Sikh-Separatisten im Ausland. Im Mai 2023 wurde der Sikh-Separatist Paramjit Singh Panjwar unter ungeklärten Umständen in der pakistanischen Stadt Lahore erschossen. Die Ermordung des pro-Khalistan Aktivisten Hardeep Singh Nijjar im kanadischen Surrey im Juni dieses Jahres hat die Khalistan-Bewegung wieder ins internationale Rampenlicht gerückt.

Der kanadische Premierminister beschuldigte die indische Regierung öffentlich, direkt am Mord von Nijjar beteiligt gewesen zu sein. Seitdem haben die diplomatischen Spannungen zwischen den beiden Staaten merklich zugenommen. Die kanadischen Geheimdienste verfügten wohl über konkrete Hinweise auf die Beteiligung indischer Agenten am Mord an dem Sikh-Prediger.



Möglicherweise hatten sie auch Informationen von anderen westlichen Geheimdiensten erhalten. Indien bestreitet jegliche Beteiligung und wirft im Gegenzug Kanada vor, Sikh-Terroristen zu beherbergen. 

Die politische Krise zwischen den beiden Ländern ist noch nicht überstanden. Sie zeigt, dass die hindunationalistische BJP-Regierung vermehrt gegen Kritiker vorgeht. Erst am 3. Oktober wurden regierungskritische Journalisten in Neu Delhi unter Anwendung des drakonischen Anti-Terror-Gesetzes UAPA (Unlawful Activities Prevention Act) verhaftet. Aktivisten sehen in der Verhaftung der Journalisten ihre Befürchtungen bestätigt, dass die BJP-Regierung Indien allmählich in einen autoritären Staat umwandelt. 

Mohammad Luqman

© Qantara.de 2023 

Mohammad Luqman ist Islamwissenschaftler und Südasienexperte.