Die Möglichkeiten einer Kamancheh

Der Deutsch-Iraner Misagh Joolaee erweitert die Möglichkeiten der persischen Stachelgeige und hat dafür den Preis der Deutschen Schallplattenkritik erhalten. Marian Brehmer hat sich das neue Album angehört.

Von Marian Brehmer

Die Kamancheh, auch persische Stachelgeige genannt, ist eine Konstante in der iranischen Kunstmusik, auf internationalen Bühnen bekannt geworden durch den Virtuosen Kayhan Kalhor. Das filigrane Streichinstrument, das in Iran, Aserbaidschan und Ländern Zentralasiens beheimatet ist, überrascht den Zuhörer immer wieder mit ihrer ausgeprägten Klangfülle — und das trotz des kleinen Resonanzkörpers, der traditionell aus Maulbeer-, Walnuss- oder Ahornholz gefertigt wird.

Kamancheh-Musik wird von einer ihr ganz eigenen Melancholie durchzogen, sie ist reich an Obertönen und besteht aus fast dahin gehauchten Noten; immer feinsinnig, klagend und dabei fast ein bisschen verletzlich.

Auf der renommierten Bestenliste des "Preis der Deutschen Schallplattenkritik" stand im Februar das neue Album eines iranischstämmigen Kamancheh-Künstlers, der seit 14 Jahren in Deutschland lebt. Misagh Joolaee zog 2006 zum Studium der Elektro- und Informationstechnik aus dem Iran nach Hannover, widmete jedoch einen Großteil seiner Zeit der Musik.

Dies lässt sich auf seiner ersten Soloplatte mit dem Titel "Ferne" spüren, die von einer hohen Energie und viel Einfallsreichtum geprägt ist. "Ferne" enthält elf Stücke, die Joolaee über die Jahre selbst komponiert hat. Begleitet wird er dabei von dem Freiburger Rhythmusvirtuosen Sebastian Flaig, der auf dem Album ganz unterschiedliche Schlaginstrumente zum Einsatz bringt, darunter Rahmentrommeln, eine Darbuka und die südamerikanische Kastentrommel Cajon.

Innovative Doppelgriffe und Herausforderung einer Musiktradition

Den Anfang macht Joolaee bedächtig zupfend, wie man es von der Kamancheh kennt, um dann im Stück "Companions" eine Reihe von innovativen Doppelgriffen zu präsentieren. Diese eigentümlichen Akkorde liegen jenseits der Hörgewohnheiten von traditionell persischer Musik und fordern eine Musiktradition heraus, die nicht gerade für ihre Flexibilität bekannt ist.

Mit "Acuteness", dem vierten Track auf der Platte, bricht sich ein kaum zu bändigender Vorwärtsdrang Bahn. Flaigs Schlagwerkspiel setzt rhythmische Akzente, während Joolaee mit rasanten Melodielinien den Ton angibt. Immer wieder tauchen auf dem Album neuartige Intervalle auf, daneben Zupf- und Bogentechniken, die Joolaee selbst entwickelt hat. In jedem der Stücke ist Joolaees intensive Auseinandersetzung mit seinem Instrument spürbar, er scheint die Möglichkeiten der Stachelgeige bis ins Unermessliche auszuschöpfen.

Im siebten Stück "Night of Separation" singt Joolaee aus einem Gedicht von Fakhr al-Din Iraqi und begleitet dabei sich selbst, während Flaig sachte die Becken eines Schlagzeugs streichelt. Die Verse, das einzige Sprachelement auf der CD, sind ein melancholisches Nachsinnen über die Trennung vom Objekt der Liebe und die daraus entstehende Verzweiflung für den Dichter.

Dabei werden auch Fragen nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen. "Dieses Gedicht ergreift mich beim Lesen jedes Mal auf ein Neues und wühlt mich innerlich auf. Deshalb verspürte ich das Bedürfnis, es zu vertonen", erklärt Joolaee.

Und so ist "Ferne" auch das persönliche Ausdruckswerk eines Exilanten, der in der Fremde sein physisches, aber auch ein musikalisches Zuhause gefunden hat. "Nach bewusstem Hören von 'Ferne' wird ein emotionaler roter Faden spürbar, der das ganze Werk durchzieht”, sagt Joolaee über die Konzeption des Soloalbums, an dem er zehn Jahre lang gearbeitet hat. "Die Zeit in Deutschland hat es mir ermöglicht, meine Herkunftskultur und insbesondere ihre Musik objektiv zu betrachten und dabei neue Blickwinkel zu finden. Der Abstand gibt mir die Möglichkeit, mich intensiver mit der Musik meines Ursprungs zu befassen, als wenn ich im Iran selbst leben würde."

Das Kamancheh-Spiel als "innere Notwendigkeit"

Bei seinen Live-Auftritten spürte Joolaee in den letzten Jahren ein gestiegenes Interesse an außereuropäischen Musiktraditionen. "Die Herausforderung besteht darin, die feinen und komplexen Aspekte dieser Musik trotz ihrer Fremdheit so interpretatorisch anspruchsvoll zu vermitteln, dass das Publikum einen inneren Zugang dazu findet", sagt Joolaee.

Joolaee wuchs in der nordiranischen Provinz Mazandaran auf. Mit acht Jahren begann er das Geigenspiel und lernte das obligatorische Radif-Repertoire, auf dem die persische Klassik aufbaut. Nebenbei erlernte er auch andere klassische Instrumente wie Setar und Tar, spielte eine Zeit lang Klavier.

Letztlich fühlte sich Joolaee aber zur Kamancheh hingezogen. In der Stachelgeige fand er sein Seeleninstrument, welches ihm ermöglichte, die Musik in seinem Inneren nach außen zu tragen. Die Wahl der Kamancheh bezeichnet er deshalb heute nicht als bewusste Entscheidung, sondern als "eine innere Notwendigkeit".

In den vergangenen Jahren arbeitete Joolaee als Dozent am "Center for World Music" der Universität Hildesheim und spielte häufig mit Vertretern anderer Musiktraditionen zusammen. Diese Begegnungen führten zum Aufkommen neuer Formationen: 2011 gründete der Deutsch-Iraner ein anatolisch-persisches Musikduo mit dem Bağlama-Virtuosen Levent Özdemir und vier Jahre später ein Flamenco-persisches Ensemble mit Musikern aus Andalusien.

Das genreübergreifende Spielen und die damit einhergehende Horizonterweiterung machen sich auf dem Album “Ferne” an manchen Stellen bemerkbar. Im letzten Stück "Ecstasized" etwa wechselt Joolaee in tänzerischer Stimmung, die fast etwas Lateinamerikanisch besitzt, zwischen verschiedenen Zupf- und Streichtechniken, unterstützt durch Schläge auf der Tontopf-Percussion. Joolaee zeigt mit seinem Debüt, dass er ein Künstler ist, der seine eigene Sprache gefunden hat und sicherlich noch mehr von sich hören lassen wird.

Marian Brehmer

© Qantara.de 2020