Wenn das Private politisch wird

In populären Videos präsentieren arabische Influencer ein neues Familienbild mit engagierten Vätern und egalitärer Rollenverteilung. Welchen Einfluss haben diese Videos? Von Kaitlyn Hashem 

Von Kaitlyn Hashem

Ramadan-Fernsehserien bieten jedes Jahr Anlass zu Diskussionen über gesellschaftliche Themen. Dabei geht es manchmal um eher unbedeutende Fragen und manchmal um ganz besonders umstrittene Themen. In diesem Jahr erregte die 15-teilige ägyptische Ramadanserie Taht Al Wasaya (deutsch: "Unter Vormundschaft“) große Aufmerksamkeit wegen ihrer Darstellung der Schwierigkeiten einer verwitweten Mutter nach dem Tod ihres Mannes. Die ergreifenden Darstellung dieser Frau, die unter einer patriarchalen Gesellschaft und einem frauenfeindlichen Rechtssystem leidet, ist in ihrer Thematik eindeutig politisch. Der Rummel um die Serie war für mindestens zwei Mitglieder des ägyptischen Parlaments Grund genug, eine Überarbeitung des ägyptischen Familienrechts zu fordern, das für Frauen einen männlichen Vormund vorsieht.

Weithin und zu Recht wird zugegeben, dass die offensichtliche Benachteiligung, die die Protagonistin der Serie erfahren muss, politische Dimensionen hat. Doch auch das alltägliche Familienleben– selbst in den glücklichsten Familien – spiegelt vielschichtig das Politische wieder und fordert die Gesellschaft heraus. 

In einem Anfang 2021 hochgeladen YouTube-Video, das bereits 22 Millionen Mal aufgerufen wurde, lässt ein junger Vater namens Anas seine Zuschauer an der Geburt seines zweiten Kindes, einem Jungen, teilhaben. Zu Beginn des Videos ist es etwa 21 Uhr und Anas und seine Frau Asala bereiten sich auf die Fahrt ins Krankenhaus vor. 

Anas teilt mit den Zuschauern seine Gefühle über diesen besonderen Tag, bis Asala auftaucht. Hochschwanger und sichtlich mitgenommen verkündet sie den Millionen Abonnenten ihres gemeinsamen Kanals: "Ehrlich, ich möchte, dass jeder Moment gefilmt wird.“ Anas stimmt ihr zu: "Wir werden nichts vor euch verbergen. … [Es wird so sein], als wäret ihr dabei.“ 

Anasala bringt ihr Kind zur Welt, Youtube Film; Quelle: screenshot
Engagierte Vaterschaft: In einem Anfang 2021 hochgeladen YouTube-Video, das bereits 22 Millionen Mal aufgerufen wurde, lässt ein junger Vater namens Anas seine Zuschauer an der Geburt seines zweiten Kindes, einem Jungen, teilhaben. Zu Beginn des Videos ist es etwa 21 Uhr und Anas und seine Frau Asala bereiten sich auf die Fahrt ins Krankenhaus vor. Anas teilt mit den Zuschauern seine Gefühle über diesen besonderen Tag, bis Asala auftaucht. Hochschwanger und sichtlich mitgenommen verkündet sie den Millionen Abonnenten ihres gemeinsamen Kanals: "Ehrlich, ich möchte, dass jeder Moment gefilmt wird.“ Anas stimmt ihr zu: "Wir werden nichts vor euch verbergen. … [Es wird so sein], als wäret ihr dabei.“

Die Dubaier Influencer-Szene

Viele Zuschauer folgten ihnen. Nur wenige Uploads des Paares schnitten besser ab als dieses Video über die Wehen und die Entbindung Asalas. Noch beliebter war lediglich ein Video, das dokumentiert, wie das bis dahin unbekannte Geschlecht desselben Babys im Jahr 2020 bei einem Event in Dubai auf den Wolkenkratzer Burj Khalifa projiziert wurde. 

In den Vereinigten Arabischen Emiraten haben sich viele arabische YouTube-Stars, darunter manche aus Ländern, die von Konflikten oder Wirtschaftskrisen betroffen sind, einen Namen gemacht. Etliche Influencer und YouTube-Persönlichkeiten erhielten sogar das Goldene Visum für besonders talentierte Personen. In der familienorientierten Dubaier YouTube-Szene tummeln sich neben Asala und Anas unter anderem auch Azza Zarour und ihr Ehemann Nour Yasin sowie die Paare Essam und Nour und Shahad und Siamand. Diese Influencer, die sich  in ihren Videos auf alltägliche Ereignisse in ihren Privathäusern und Familien konzentrieren, sind sehr beliebt. 

Typische Videos zeigen Feste an Feiertagen, Einkaufstouren, Urlaubsszenen, witzige und herausfordernde Situationen. Unabhängig vom jeweiligen Inhalt ist jedoch am interessantesten zu sehen, wie in Videos dieses Genres vor laufender Kamera die Zusammenarbeit zwischen Mann und Frau ausgehandelt wird. Oft sieht man in ihnen eine aktive Beteiligung der Ehemänner an der Kinderbetreuung und ihre Offenheit, fürsorgliche Eigenschaften zu zeigen.  

Ein kürzlich von Shahad und Siamand veröffentlichtes Video mit dem Titel "Ein vollständiger Tagesablauf in unserem neuen Haus mit zwei Kindern“ zeigt, wie das Paar die anfallenden Aufgaben der Organisation und der Kinderbetreuung für den Tag aufteilt, die verschiedenen Aufträge sogar auf Post-it-Zettel schreibt und sich gegenseitig zuweist. Ebenso erklären Essam und Nour in ihrer alljährlichen Ramadan-Serie, dass sie während des Monats beabsichtigen, das abendliche Kochen abwechselnd zu übernehmen. 

Engagierte Vaterschaft - zumindest bei YouTube

Ein weiteres Beispiel, das zeigt, wie sehr das Genre die engagierte Vaterschaft zelebriert, ist der saudische YouTuber Mohamed Moshaya, der einen der erfolgreichsten Kanäle in der Region betreibt und darin seinen Alltag mit vier Kindern zeigt.

Arab Barometer Gender Attitudes and Trend 2022; Quelle: Arab Barometer
Geschlechterrollen im Wandel: Die Ergebnisse einer Studie des Arab Barometer von 2022 zeigen hinsichtlich der Einstellungen zum Familienleben, dass sich die Ansichten zwar langsam zugunsten der Gleichberechtigung von Frauen ändern, aber immer noch traditionelle Erwartungen vorherrschen. In der Hälfte der arabischen Länder, die 2021 befragt wurden, stimmten mindestens sechs von zehn Befragten der Vorstellung zu, dass der Mann bei allen Entscheidungen, die die Familie betreffen, das letzte Wort haben sollte.

In einem Interview aus dem Jahr 2020 hebt Moshaya die positiven Rückmeldungen hervor, die er von seinen Zuschauern erhalten hat. Manche Frauen würden ihm mitteilen, dass "ihre Ehemänner mehr mit der Familie unternehmen, nachdem sie begonnen haben, unsere Videos zu schauen, weil wir das so machen. Die Tatsache, dass unsere Inhalte die Menschen liebevoller machen, ist für mich etwas ganz Besonderes.“ 

Doch obwohl die Darstellung der Kooperation in der Ehe diesen Familien-Videos erstaunen mag, bleiben die Rollen, die die Macher übernehmen, zumindest teilweise traditionell.



Einige Ehefrauen in diesen beliebten Duos, darunter Shahad von Shahad und Siamand und Nour von Essam und Nour, unterhalten ihre eigenen erfolgreichen Spin-Off-Kanäle, die sich um Lifestyle-Themen speziell für Frauen drehen, wie Schönheit, Mode und häufig auch Putzen

In gewisser Weise machen diese Familien in ihren YouTube-Videos also eher traditionelle Rollen zu Geld, als dass sie sich ihnen verweigern. Dieser Trend lässt sich auch in den Auftritten arabischer Frauen beobachten, die prominente Kochkanäle auf YouTube betreiben.

Die Entscheidung, Inhalte für eine weibliche Zielgruppe zu erstellen, ist strategisch und der Fokus auf das Thema Hausarbeit orientiert sich dann – vielleicht ungewollt – an der faktischen Rollenverteilung. 

Was arabische YouTuber-Paare vermitteln, ist wohl ein offeneres Modell von Familienleben, das stereotype Darstellungen eines sich als Autorität aufspielenden Ehemanns und die streng geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung im Haushalt infrage stellt. Auch wenn diese Art von Arrangement eindeutig fester Bestandteil bei der Erstellung der Videos ist, bildet es aber nicht zwingend den Standard in der arabischen Welt ab. 

Ein neues Familienleben

Im arabischen Raum ist die Hausarbeit erschreckend ungleich verteilt. Laut einem Bericht von UN Women aus dem Jahr 2020 weist die Region bei der unbezahlten Betreuungsarbeit den weltweit größten Unterschied zwischen Frauen und Männern auf. Während Frauen durchschnittlich zwischen 17 und 34 Stunden pro Woche für solche Aufgaben aufwenden, sind es bei den Männern nur eine bis 5 Stunden.  

Allerdings besteht diese Kluft weltweit. Mit der COVID19-Pandemie trat sie noch deutlicher zutage. Diese Ungleichheit steht in direktem Zusammenhang mit der Teilhabe von Frauen am Wirtschaftsleben außerhalb des Hauses: Die Erwerbsquote der Frauen in der Region Naher Osten und Nordafrika wird auf knapp 19 Prozent geschätzt

Die Ergebnisse einer Studie des Arab Barometer von 2022 zeigen hinsichtlich der Einstellungen zum Familienleben, dass sich die Ansichten zwar langsam zugunsten der Gleichberechtigung von Frauen ändern, aber immer noch traditionelle Erwartungen vorherrschen. In der Hälfte der arabischen Länder, die 2021 befragt wurden, stimmten mindestens sechs von zehn Befragten der Vorstellung zu, dass der Mann bei allen Entscheidungen, die die Familie betreffen, das letzte Wort haben sollte. 

Die 2017 veröffentlichte Studie "Understanding Masculinities“ hebt hervor, dass nur ein Zehntel bis ein Drittel der befragten Männer im Libanon, in Ägypten, Palästina und Marokko (den vier untersuchten arabischen Ländern) angab, in letzter Zeit eine traditionell weiblich konnotierte Aufgabe wie Kochen, Putzen oder Baden der Kinder ausgeführt zu haben. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass in der gleichen Umfrage eine Mehrheit der Männer und etwa die Hälfte der Frauen der Ansicht sind, dass die wichtigste Aufgabe der Frau die Versorgung des Haushalts sei. 

Report The Role of the Care Economy in Promoting Gender Equality; Quelle: UN Women
Ungleicher Verteilung von Care-Arbeit: Im arabischen Raum ist die Hausarbeit erschreckend ungleich verteilt. Laut einem Bericht von UN Women aus dem Jahr 2020 weist die Region bei der unbezahlten Betreuungsarbeit den weltweit größten Unterschied zwischen Frauen und Männern auf. Während Frauen durchschnittlich zwischen 17 und 34 Stunden pro Woche für solche Aufgaben aufwenden, sind es bei den Männern nur eine bis 5 Stunden.

Kontroverse Themen

Die Beziehungen innerhalb der Familie, vor allem die Vaterschaft, wurden Anfang 2022 zu einem heißen Thema, als die arabischsprachige Originalfassung des Films "Fremde Freunde“ im gesamten Nahen Osten kontroverse Diskussionen auslöste.



Missfallen erregten besonders zwei Charaktere, ein schwuler Mann und eine Ehefrau (zufällig auch dargestellt von Mona Zaki, dem Star der Ramadanserie Taht Al Wasaya), die beim Fremdgehen ertappt wird, sowie die Darstellung eines Gesprächs zwischen einem Vater und seiner Tochter über ihre Beziehung zu ihrem Freund. 

Georges Khabbaz, der Schauspieler, der im Film den Vater spielte, sagte in einem Interview, dass der Film "zu Offenheit und Transparenz zwischen Eltern und ihren Kindern ermutige“ und fügte hinzu, dass "die Kommunikation zwischen den beiden Generationen in der arabischen Welt ein wenig gestört ist.“



Trotz aller Kritik an dem Film – unter anderem forderte ein Mitglied des ägyptischen Repräsentantenhauses ein Verbot von Netflix – wurde er in der Region zum beliebtesten Film des Streaming-Anbieters. 

In der Tat befürchten die fest im Sattel sitzenden Machthaber im Nahen Osten seit langem, dass mit digitaler Technologie und Globalisierung vermeintlich fremde kulturelle Werte Einzug halten. So hat 2022 ausgerechnet das Zielland vieler Influencer, die Vereinigten Arabischen Emirate, den Pixar-Film "Lightyear“ verboten.



Die Begründung war, der im Film gezeigte gleichgeschlechtliche Kuss verstoße gegen die Medienstandards des Landes. Auf ähnliche Weise wurde der Film in Bahrain, Ägypten, Irak, Jordanien, Kuwait, Libanon, Oman, Katar, Syrien, Palästina und Saudi-Arabien zensiert. Damit widerfuhr ihm das gleiche Schicksal wie etlichen jüngeren Veröffentlichungen, in denen LGBTQ+-Charaktere auftauchen. 

Subversives Potential

Verglichen damit gibt es auf den ersten Blick nichts explizit Kontroverses an den Inhalten, die Familien-YouTuber produzieren. Keines der aufgegriffenen Themen ist so tabuisiert, dass es mehr als ein paar meinungsstarke Schimpfwörter im Kommentarbereich rechtfertigt. Hinter den Videotiteln, die zum Anklicken verleiten sollen, stehen jedoch viele Influencer, die äußerst offen sind und die Zuschauer einladen, einen Blick in ihr Privatleben und ihre Beziehungen zu werfen (oder zumindest in kuratierte Teile davon). 

Noch ist nicht klar, welche Auswirkungen diese Video-Kanäle haben werden, doch sie könnten bei den Abonnenten durchaus zu Veränderungen ihrer Einstellungen führen. Experten meinen, dass in der Region Ansichten über Geschlechterrollen zumindest teilweise durch die Wahrnehmung der Überzeugungen und Verhaltensweisen innerhalb der eigenen sozialen Gruppe beeinflusst werden.



Vielleicht machen solche Videos einfach die geschlechtsspezifischen Dimensionen der Hausarbeit sichtbarer und welche Entscheidungen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich damit verbunden sind.  

Seit dem Arabischen Frühling sind sich die regionalen Regierungen des subversiven Potenzials von Social-Media-Plattformen wie YouTube nur allzu bewusst. Doch auf lange Sicht könnte der Drang der YouTuber, "jeden Moment zu filmen“, der politisch bedeutsamste Inhalt überhaupt sein. Man fragt sich, ob überhaupt irgend jemand unter den Regierungsbeamten, die ständig nach den möglichen Auswirkungen fiktiver Geschichten auf die reale Welt suchen, dies beobachtet. 

Kaitlyn Hashem 

© sada | Carnegie Endowment for International Peace 2023 

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.