Eine Reise in die Vergangenheit

Dem frankophonen libanesischen Schriftsteller Amin Maalouf wurde der diesjährige "Prix Méditerranée" für sein jüngstes Werk "Origines" verliehen. Bernhard Schmid stellt das Buch vor, das noch nicht auf Deutsch vorliegt.

Amin Maalouf
Amin Maalouf

​​"Unsere Vorfahren sind unsere Kinder, durch ein Loch in der Wand schauen wir ihnen beim Spielen in ihrem Zimmer zu." Das ist einer der ersten Eindrücke, den der libanesisch-französische Schriftsteller Amin Maalouf bei der Vorarbeit für seinen neuesten Roman gewinnt.

Einen Roman, den man als eine Art in die Geschichte hinein verlängerter Autobiographie bezeichnen könnte. Denn Amin Maalouf will nicht in erster Linie sein eigenes Leben nachzeichnen. Vielmehr möchte er seine Herkunft und ihre Hintergründe erzählen, indem er auf den Spuren mehrerer seiner Vorfahren wandelt.

So heißt der Roman, der im Mai dieses Jahres den Literaturpreis Prix Méditerranée erhielt, im Französischen Origines. Von "Wurzeln" möchte der Autor jedoch nicht sprechen, sondern von "Wegen" oder "Routen":

"Das ist nicht mein Vokabular. Ich mag das Wort ’Wurzeln¹ nicht, und noch weniger das Bild. (...) Die Wurzeln halten den Baum fest, und ernähren ihn um den Preis einer Erpressung: ’Wenn Du Dich befreist, dann stirbst Du! Die Bäume müssen sich fügen, denn sie benötigen ihre Wurzeln; die Menschen nicht. Wir atmen das Licht, wir streben nach dem Himmel, und wenn wir in die Erde einfahren, dann, um zu verfaulen. (...) Anders als die Bäume, entspringen die Wege nicht nach dem Zufall der Aussaat aus dem Boden."

Im Mittelpunkt seiner Entdeckung steht Botros, der Großvater. Er die beeindruckendste Figur in dieser Mischung aus historischer Dokumentation, Autobiographie und Roman mit authentischer Handlung. Nicht zufällig spricht Amin Maalouf in einem Interview, das am 15. August 04 auf Radio France Info ausgestrahlt wurde, von ihm als "einem Rebellen, einem freien Mann."

Die Handlung beginnt dort, wo sie annähernd 500 Seiten später enden wird: Beim Tod von Maaloufs Vater, der einige Tage zuvor, am 17. August 1980, einen Hirnschlag erlitt und vom Fahrrad stürzte.

An demselben Tag, an dem 56 Jahre früher auch sein Großvater starb, wie der Autor von seiner Großmutter erfährt, der er die Todesnachricht überbringt.

Forschen in der Vergangenheit

Kurz leuchtet bei ihm der Gedanke an den rätselhaft gebliebenen Großvater auf, über den so manches in der Familie erzählt wird. Doch erst Jahre später bringt eine andere Episode den Stein der Untersuchung ins Rollen:

Ein spanischer Diplomat, den Amin Maalouf seit langen Jahren kennt, behauptet, er habe einen Verwandten in Kuba, der eine wichtige Rolle bei der kubanischen Revolution gespielt habe. Einen gewissen Arnaldo Maluf. Zufall oder echte Verwandtschaftsbeziehung?

Bei seinem nächsten Aufenthalt im Heimatdorf Aïn el-Qabouh im Libanongebirge gräbt Maalouf die gesamte Familienkorrespondenz aus. Einige Familienmitglieder, die eine Erinnerung an jene haben, die das 19. Jahrhundert kannten, sind noch am Leben: Wenn er, sagt der Autor, das Gewesene nicht dem Vergessen entreiße, dann sei es für künftige Generationen zu spät.

Die Faszination des Auswanderns

Das Heimatdorf der Familie liegt in 1.200 Meter Höhe im Libanongebirge und blickt auf das Mittelmeer herab. Diese Perspektive habe die Mentalität seiner Vorfahren beeinflusst, meint der Autor, hier, wo in jeder Familie ein Kind in Beirut beerdigt sei, ein anderes in Ägypten, ein drittes in Argentinien, in Nordamerika oder Australien.

Auch seinen Großvater Botros hatte dieser Geist gepackt. In jungen Jahren verließ er gegen den Willen seines Vaters das Heimatdorf und ging nach Beirut, um bei amerikanischen Missionaren die Schule zu besuchen. Das war deshalb unerhört, weil die Familie der griechisch-katholischen Bevölkerungsgruppe angehörte, während die Missionare Protestanten waren.

Der Vater akzeptierte aber schließlich die Entscheidung und unterstützte seinen Sohn finanziell. Botros heiratete schließlich die Tochter eines Libanesen, der sich zum Protestantismus bekehrt hatte, doch in der Schwiegerfamilie herrschte ein strenger Geist.

Auch Botros selbst war in jungen Jahren der Faszination des Auswanderns erlegen: Sein Bruder Gebrayel hatte sich als Händler in Kuba niedergelassen und schien großen Erfolg zu haben; in Briefen forderte er ihn immer wieder zum Kommen auf.

Daher rührt die hartnäckige Familienlegende, der wortgewaltige Botros habe den in Schwierigkeiten geratenen Gebrayel aus einer ernsthaften Klemme befreit. Amin Maalouf fliegt nach Kuba und verbringt mehrere Monate dort, um der Geschichte nachzugehen.

Der Besuch Botros' diente aber wohl weniger dazu, seinem Bruder beizustehen, als ihm selbst zu erlauben, ein neues Leben zu beginnen. Der Libanon schien ihm plötzlich klein und eng geworden zu sein.

Kubanische Familiengeschichte

Doch der Bruder, obwohl erfolgreicher und hart arbeitender Geschäftsmann, steckte noch in seinen Anfängen: Botros musste auf dem Dachboden im Stroh übernachten. Später dann würde Gebrayel einen wahrhaften Palast im Zentrum von Havanna kaufen. Doch da hatte Botros sich bereits zu einem Leben im Libanon entschieden, wo er an der Umsetzung seiner Ideen vom gesellschaftlichen Fortschritt arbeiten wollte.

Gebrayel hingegen ereilte zum Ende des Ersten Weltkriegs, auf dem Höhepunkt des Erfolgs, das Ende: Er stürzte mit seiner Limousine in einen Fluss. Die von ihm begründete Handelsdynastie war damit zusammengebrochen.

Nach monatelanger Recherche auf Kuba findet Amin Maalouf einen noch lebenden Verwandten! Der 80jährige, überlebende Verwandte spricht kein Wort Arabisch mehr, dennoch haben beide bei ihrem Zusammentreffen das Gefühl, das Versäumte eines ganzen Jahrhunderts nachzuholen.

Den vermeintlichen Verwandten Arnaldo, der in der kubanischen Politik aktiv sein soll, scheint es dagegen nicht zu geben. Aber was kümmert das, wo Maalouf doch der Wahrheit über seine kubanische Familiengeschichte auf die Spur gekommen ist.

Der Fortschrittstraum des Botros

Zurück im Libanon, versuchte Botros seinerseits, im Land für seine Ideale von Aufklärung und Freidenkertum zu wirken. Er gründet eine Lehranstalt namens "Universelle Schule" in seinem Heimatdorf, an der, für die damalige Zeit ebenfalls unerhört, Jungen und Mädchen jeglicher Konfession gemeinsam unterrichtet werden.

Botros, barhäuptig und locker gekleidet wie niemand außer ihm im Dorf, schert sich nicht darum, dass manche ihn zum Gottlosen erklären. Er träumt von politischen Reformen und sieht sich als "osmanischen Bürger" eines multinationalen Staates mit einer liberalen Verfassung, dessen Bürger gleichberechtigt seien.

Ein bisschen wehmütig heißt es da bei Maalouf: "(Damals), vor kaum 100 Jahren, nannten sich die Christen im Libanon bereitwillig Syrer, die Syrer suchten sich einen König in der Nähe von Mekka, die Juden im 'Heiligen Land' erklärten sich den Palästinensern zugehörig..., und Botros wollte osmanischer Bürger sein. Kein einziger der Staaten des aktuellen Nahen Ostens existierte, und der Name dieser Region war noch nicht erfunden. Man nannte sie 'Die asiatische Türkei'. Seitdem sind viele Menschen für vorgeblich ewige Vaterländer gefallen, und viele andere werden noch sterben."

Zum Abschluss der Schilderung seines Kubaaufenthalts schreibt Maalouf: "Alles, was ich aufsammeln konnte, bleibt fragmentarisch, ich weiß es. Aber es wäre Illusion, etwas anderes zu wollen. Die Vergangenheit ist notwendig fragmentarisch, notwendig rekonstruiert, notwendig neu erfunden. Man erntet immer nur die Wahrheit von heute. Zwar ist unsere Gegenwart das Kind der Vergangenheit, aber unsere Vergangenheit ist das Kind der Gegenwart. Und die Zukunft wird die Ernte unserer Halbheiten einfahren."

Der Autor will seine Nachforschungen künftig fortsetzen über jene Generation, die während des Bürgerkriegs im Libanon zwischen 1975 und 1990 das Land verließen.

Bernhard Schmid

© Qantara.de 2004

Amin Maalouf:
Origines
Editions Grasset, Paris, 2004
486 Seiten, 21,50 Euro