Rumoren unter der Oberfläche

Die Christen Aleppos gehören zur Wirtschaftselite der Stadt, sie nehmen aktiv am gesellschaftlichen Leben teil und werden vom Assad-Regime respektiert. Doch viele befürchten, dass eine schleichende Islamisierung in Syrien das tolerante Religionsklima gefährden könnte. Von Claudia Mende

Maronitische Kathedrale in Aleppo-Jedeida; Foto: Claudia Mende
Über 250.000 Christen leben heute in Aleppo. Damit zählt die nordsyrischen Metropole zu einer der größten christlichen Gemeinden im gesamten Nahen Osten.

​​Wer durch Aleppo-Jedeida mit seinem Kopfsteinpflaster, den überwölbten Gassen und prächtigen Stadthäusern läuft, fühlt sich mehr wie in Frankreich als in Syrien: Im alten Christenviertel von Aleppo drängen sich die Kirchen. Von der maronitischen Kathedrale bis zur gregorianisch-armenischen Kirche der 40 Märtyrer sind es nur ein paar Minuten zu Fuß. Auf der kurzen Wegstrecke liegen auch noch eine römisch-katholische und eine griechisch-orthodoxe Kirche.

Das Christentum in Syrien ist ein Wirrwarr von elf verschiedenen Konfessionen, durch das selbst Einheimische nicht immer recht durchblicken. Die griechisch-orthodoxen Christen sind die zahlenmäßig größte Gruppe, doch es gibt noch weitere orthodoxe sowie die mit dem Papst in Rom verbundenen orientalischen Kirchen. Rund zehn Prozent der syrischen Bevölkerung sind Christen; allein in Aleppo leben rund 400.000 von ihnen.

Loyalität gegenüber Assad

Am zentralen Sahat al-Hatab-Platz stehen Platanen und grüne Parkbänke, darum herum gruppieren sich Schmuckgeschäfte. Hier haben die armenischen Silberschmiede ihre Läden.

Wenn man den Laden von Hakop Okasjian betritt, fällt sofort ein Foto ins Auge, das der Armenier direkt neben den Eingang platziert hat. Es zeigt den syrischen Staatspräsidenten Bashar al-Assad und seine Frau Asmaa zusammen mit dem spanischen Königspaar. Das Foto ist keines jener Jubelplakate des Präsidenten, die im ganzen Land hängen, sondern ein privates Dokument vom Staatsbesuch in seinem kleinen Laden, das Okasjian hütet wie einen Schatz.

"Wir Armenier können in Syrien gut leben", meint der Händler. "Wir haben hier unsere eigenen Schulen, Zeitschriften und Kulturveranstaltungen auf Armenisch." Nach dem Völkermord unter der jungtürkischen Führung des Osmanischen Reichs 1915-17 ist Okasjians Familie wie viele Armenier nach Syrien geflüchtet.

Die Dankbarkeit, hier in Sicherheit zu leben und die eigene Kultur und Religion pflegen zu dürfen, bringen ihre Nachfahren bis heute dem Regime entgegen. Syriens religiöse Minderheiten sind gegenüber Staatschef Assad loyal, weil sie in ihm den Garanten für ihre Religionsfreiheit sehen.

Nachwehen des Irakkriegs

Die chaldäisch-katholische Kathedrale liegt im noblen Stadtteil Azizye. Sie ist beim morgendlichen Sonntagsgottesdienst halb voll mit meist älteren Männern und Frauen. Der Begriff "chaldäisch" kommt von "Chaldäa", der biblischen Bezeichnung für Mesopotamien und den Südirak. Ihr geistiges Oberhaupt lebt in Bagdad.

Syriens Präsident Baschar al-Assad; Foto: AP
Schutz vor religiös-motivierten Übergriffen: Unter Syriens Präsident Baschar al-Assad herrscht noch ein relativ tolerantes Klima gegegenüber religiösen Minderheiten wie den Christen.

​​Nach dem Gottesdienst trifft sich Bischof Antoine Audo im Hof seiner Bischofsresidenz mit Gläubigen. Man sitzt auf Parkbänken und trinkt bitteren türkischen Kaffee in winzigen Tassen, während der Wind den Staub durch die Luft wirbelt. Der Jesuit Antoine Audo, Jahrgang 1946 und ein gebürtiger Aleppiner, war Professor für Bibelwissenschaften an der katholischen Universität St. Joseph in Beirut und gilt als einer der fähigsten kirchlichen Köpfe im Nahen Osten.

Auch Audo geht kein kritisches Wort gegen das Regime über die Lippen. Er hat seine Gemeinde durch die bleiernen 1970er und 80er Jahre gelotst und ist ein vorsichtiger Diplomat.

Dabei war keine andere Kirche so stark vom Irakkrieg und seinen Nachwehen betroffen. 1,5 Millionen irakische Flüchtlinge haben jahrelang in Syrien ausgeharrt. Inzwischen sind viele Christen unter ihnen nach Nordamerika, Europa und Australien weiter gezogen. Audo kann sich einem neuen Projekt widmen, dem Aufbau einer Schule für Kinder aller Konfessionen und Religionen.

Religionstoleranz als Staatsräson

"Wer als syrischer Katholik geboren wird, der bleibt es ein Leben lang", betont der Bischof. Anders als in Europa stimmen Kultur und Glaube in Syrien noch weitgehend überein. Konversionen zwischen den einzelnen christlichen Konfessionen gibt es kaum. Die Bekehrung von Muslimen ist zwar im säkularen Syrien nicht verboten, aber gesellschaftlich inakzeptabel. Ein Muslim, der zum Christentum übertreten will, muss auswandern.

Armenische Kirche der 40 Märtyrer, Foto: Wikipedia
Hochburg der armenischen Kultur: Aleppos armenische Kirche der 40 Märtyrer ist eine der ältesten Kirchen in der armenischen Diaspora

​​Die Christen Aleppos gehören zur Wirtschaftselite der Stadt, sie nehmen aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben teil. Eine Auswanderungswelle gibt es hier nicht, nur die Befürchtung, wer zum Studium in die USA geht, komme vielleicht nicht zurück.

Wer sich aus religiösen Gründen zum Beispiel am Arbeitsplatz benachteiligt fühlt, könne sich bei den Behörden beschweren, betont der Bischof. Staatliche Stellen hätten großes Interesse daran, solche Konflikte schnell zu lösen. Denn religiöse Toleranz gehört zur Staatsräson im Einparteienstaat von Staatschef Bashar al-Assad, der sonst eher für die gründliche Bespitzelung seiner Bürger durch konkurrierende Sicherheitsdienste bekannt ist.

Die Gründe für dieses tolerante Klima liegen im komplizierten Geflecht der syrischen Gesellschaft. Die herrschende Elite um den Regierungschef gehört zu den Alawiten, einer liberalen schiitischen Splittergruppe, die selbst am Rande der islamischen Orthodoxie angesiedelt ist. Für viele muslimische Sunniten sind die Alawiten nicht lupenrein islamisch. Toleranz gegenüber Minderheiten ist für das Regime daher eine Frage des politischen Überlebens. Viele Christen sehen in Assad den Garanten ihrer Religionsfreiheit.

Zunahme des Niqabs im öffentlichen Raum

Trotzdem sind sie beunruhigt. Offiziell gibt es zwar keine islamistischen Strömungen im Land, die Muslimbrüder sind verboten. Doch der Bischof spricht in seiner vorsichtigen Diktion von einem Rumoren unter der Oberfläche.

"Viele Christen spüren, dass manche Syrer neuerdings einem fundamentalistischen Islam zugeneigt sind", sagt er. Sichtbarstes Zeichen hierfür sind die vielen in den Niqab gehüllte Frauen in den Straßen Aleppos. "Frauen, die sich nach saudischem Vorbild bis auf einen Schlitz für die Augen verhüllen, sind ein neues Phänomen in der syrischen Gesellschaft", betont er. Ist die Verschleierung ein politisches Statement?

Seine Antwort ist zurückhaltend. "Ihre Kleidung wirft zumindest Fragen auf über die politischen Vorstellungen hinter ihrem Erscheinungsbild." Das sieht auch die säkulare Regierung so, denn sie hat im Juli 2010 den Niqab an Schulen und Universitäten verboten.

Syrien ist ein Land im Umbruch. Nach Jahrzehnten der sozialistischen Planwirtschaft öffnet sich das Land langsam für eine Außenwelt, die viele Menschen als feindlich erleben. Die Kluft zwischen arm und reich wird größer. Für manche Syrer ist ein westlicher Lebensstil sehr attraktiv, während sich andere durch die Veränderungen in ihrer Identität bedroht sehen.

Für Bischof Audo ist der radikale Islam ein verängstigtes Festhalten an einer rückwärts gewandten Identität. Wie die schleichende Islamisierung das traditionell tolerante Religionsklima in Syrien verändern wird, ist noch nicht abzusehen.

Claudia Mende

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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