Proporz-Demokratie auf irakisch

Die Schwierigkeit, zwischen den unterschiedlichen Volksgruppen eine Balance zu finden, behindert seit Monaten die Regierungsbildung im Irak. Die nun erfolgte Einigung zeigte aber schnell gewaltige Risse. Aus Bagdad berichtet Birgit Svensson.

Irakische Parlamentarier; Foto: AP/Karim Kadim
Nach den Parlamentswahlen im März 2010 kann keiner alleine regieren, doch eine Koalition von Maliki und Allawi lässt sich auch nicht durchsetzen, schreibt Birgit Svensson.

​​ Es ist eine demonstrative Geste. Einen Tag nachdem der sunnitische Politiker Osama al-Nujaifi zum neuen Parlamentspräsidenten Iraks gewählt wurde, besucht er zusammen mit dem christlichen Abgeordneten Yonadam Kanna die syrisch-katholische Kirche, in der am 31. Oktober das schreckliche Blutbad geschah.

Vier Terroristen erstürmten das Gotteshaus während einer Messe und nahmen über 100 Gläubige als Geiseln. Die Befreiungsaktion der irakischen Sicherheitskräfte kostete 54 Menschen das Leben. Doch dessen nicht genug. In den darauffolgenden Tagen gab es immer wieder Anschläge auf Christen, deren Geschäfte und Einrichtungen. Das erste Mal in Bagdad, dass sich der Terror gezielt gegen diese Volksgruppe richtet.

Die Dachorganisation terroristischer Gruppen "Islamischer Staat Irak", der auch Al Qaida angehört, bekannte sich verantwortlich. Osama al-Nujaifi, Bruder des Gouverneurs von Mosul, Iraks drittgrößter Stadt im Norden, kennt dies und will sich dem bewusst entgegenstellen. Denn vor fast genau zwei Jahren geschah ähnliches in seiner Heimatstadt.

Systematisch wurde eine Woche lang jeden Tag ein Christ ermordet, bis Tausende aus der Stadt geflohen waren, und die Regierung in Bagdad die Präsenz des Militärs zum Schutz der Verbliebenen verstärkte.

Beerdigung der Opfer des Anschlags auf die katholische Kirche in Bagdad; Foto: dpa
Am 2. November richtete sich der Terror in Bagdad zum ersten Mal gegen die Christen. Der christliche Abgeordnete Yonadam Kanna ist dennoch optimistisch, dass sich die Lage nach erfolgter Regierungsbildung wieder beruhigen wird.

​​ Trotz aller Sorge um den Verbleib der irakischen Christen ist der Abgeordnete Kanna dennoch optimistisch, dass bei erfolgter Regierungsbildung der Terror eingedämmt und die Sicherheitslage sich im Irak wieder beruhigen wird.

Er teilt nicht die Chaos-Szenarien, wonach der Irak abermals an den Rand eines Bürgerkrieges geraten könnte. Der in den letzten Wochen wieder zunehmende Terror ist für ihn politisch motiviert: "Die politischen Kräfte müssen ihn ausbalancieren", sagt er. Deshalb sei der Besuch Osama al-Nujaifis in der Kirche so wichtig.

Postengeschacher um das Amt des Premiers

Und tatsächlich. Seitdem der Oberste Gerichtshof Iraks am 24. Oktober einer Klage mehrerer irakischer Bürgerrechtsgruppen entsprach und den Parlamentariern per Beschluss eine Sitzung verordnete, in der ihr Vorsitzender gewählt werden sollte, wuchs der Druck für eine Einigung.

Acht Monate herrschte zwischen Euphrat und Tigris politischer Stillstand. Aus den Parlamentswahlen am 7. März ist zwar Ijad Allawi, der erste Übergangspremier nach dem Sturz Saddam Husseins, mit 92 Sitzen als knapper Sieger hervorgegangen. Doch kann er nicht allein regieren. Auch der zweitplatzierte Nuri al-Maliki (89 Sitze), der noch amtierende Premier, muss koalieren. Ein Postengeschacher begann, das mehr und mehr zu einem Zweikampf zwischen Allawi und Maliki ausuferte und deren, wie es schien, unüberwindbare Feindschaft deutlich zutage treten ließ.

Allawi und Maliki bei der ersten Parlamentssitzung nach der Wahl; Foto: AP
Postengeschacher um die Ämter: Kaum hatte man sich nach Monaten auf eine Regierungsbildung geeinigt, bekam diese erste Risse.

​​ Langsam wurde klar: Eine Koalition von Maliki und Allawi, die zusammen eine satte Mehrheit hätten, lässt sich nicht durchsetzen. Die jeweilige Suche nach Regierungspartnern brachte eine nicht enden wollende Lähmung mit sich. Das entstehende Machtvakuum nutzten die Terroristen für ihre Zwecke. Vermehrte Anschläge im ganzen Land waren die Folge.

Schließlich nahmen die Kurden das Heft in die Hand. Unter ihrer Vermittlung einigten sich die beiden Erzrivalen auf eine Machtverteilung. Maliki soll zwar Premierminister bleiben, Allawis Partei den Parlamentsvorsitz bekommen, der kurdische Präsident Jalal Talabani eine zweite Amtszeit. Doch die Einigung zeigte schon beim ersten Zusammentreffen in der Volksversammlung gewaltige Risse. Nach einem Disput über den noch einzusetzenden Strategie-Rat, der die Macht des Premiers einschränken soll, verließen zwei Drittel der Abgeordneten Allawis unter Protest den Saal.

Strippenzieher im Hintergrund

Für Rosch Nuri Schaways ist es bereits die vierte Regierung, die er mitverhandelt. Schon unter Ijad Allawi war der Kurde Vize-Präsident, jetzt ist er einer der beiden Stellvertreter von Premierminister Nuri al-Maliki.

"Ich wollte nie einen Top-Job in der Regierung", antwortet er in perfektem Deutsch auf die Frage nach dem Grund für den ewigen Vize, "ich habe nie für das Parlament kandidiert". Der im thüringischen Ilmenau promovierte Elektrotechniker versteht sich als Strippenzieher im Hintergrund. Damit ist er momentan einer der einflussreichsten Männer im politischen Karussell Iraks. Seine ruhige Art ist wie geschaffen dafür, die Aufgeregtheit diverser Hahnenkämpfe auszubalancieren.

Balance ist ohnehin sein Markenzeichen und für ihn momentan die einzige Lösung der Regierungskrise. "Das Land ist noch nicht reif für eine rein parlamentarische Mehrheitsregierung", stellt er sich in Opposition zu Nuri al-Maliki. "Wir müssen alle Kräfte mit einbinden, sonst hört der Terror nicht auf."

Kontroverse Proporz-Demokratie

Maliki will Schluss machen mit dem Proporz, den die Amerikaner nach ihrem Einmarsch eingeführt haben. Seitdem sind alle Volksgruppen Iraks proportional an der Regierung beteiligt.

Dem schiitischen Premier sind jeweils ein kurdischer und ein sunnitischer Stellvertreter untergeordnet. Bei dem kurdischen Präsidenten ist ein Schiit und ein Sunnit Vize. Der sunnitische Parlamentsvorsitzende hat einen schiitischen und einen kurdischen Stellvertreter. Diese Konstellation gilt auch für die Besetzung der Ministerien, des Sicherheitsapparates, für nahezu alle staatlichen Stellen.

Maliki und Talabani in der autonomen Region Kurdistan; Foto: dpa
Die Kurdenallianz fungiert als Königsmacher, obwohl sie mit 57 Parlamentssitzen bei der Wahl nur auf dem vierten Platz landete.

​​ Nicht nur der schiitische Premierminister sieht darin ein erhebliches Hindernis seines politischen Handelns. "Warum haben wir ein Proporz-System aufgedrückt bekommen, das im Libanon nach 15 Jahren Bürgerkrieg eingeführt wurde?", beklagt Rajja Kuzai die Maßnahme des ersten US-Administrators Paul Bremer, der die Ärztin im Herbst 2003 in den von ihm eingesetzten Regierungsrat berief, nicht weil sie bestimmte Fähigkeiten besaß, sondern weil sie eine Frau und Schiitin ist.

Mittlerweile sind sieben Jahre vergangen, doch die Diskussion darüber ist so kontrovers wie damals. Wenn auch aus anderen Gründen. Dass die Kurdenallianz, mit 57 Parlamentssitzen zwar nur viertplatziert bei der Wahl, trotzdem als Königsmacher fungiert, lässt den Amerikanern einen Steinen vom Herzen fallen. Denn die Kurden drängen darauf, den Proporz weiter aufrecht zu erhalten.

Ohne Allawi und seine sunnitischen Anhänger, würde der Einfluss Irans in der irakischen Regierung weiter zunehmen: ein Albtraum für Washington, aber auch für die sunnitisch geprägten Nachbarländer Iraks.

Nachdem Teheran es vermocht hatte, das Zerwürfnis zwischen Maliki und dem Schiitenführer Moktada al-Sadr, der sich im iranischen Qom aufhält, zu kitten und ihn zur Unterstützung einer zweiten Amtszeit des 60-jährigen Literaturwissenschaftlers zu überreden, schien einer abermals religiös dominierten Schiitenregierung nichts mehr im Wege zu stehen. Doch die erforderliche Mehrheit wird knapp um zwei Stimmen verfehlt. Maliki braucht die Kurden zum Regieren. Nun hat er 30 Tage Zeit, sein Kabinett zusammenzustellen. Der Streit um den Proporz wird weitergehen.

Birgit Svensson

© Qantara.de 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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