Eine Parabel zur Teilbarkeit von Menschenrechten

Murat Kurnaz? Es ist still geworden um den 25-jährigen Mann aus Bremen. Sollte das damit zusammenhängen, dass er "keiner ist von unsrem Fleisch und Blut", fragt Eberhard Seidel in seinem Kommentar.

Sicherlich, da gibt es ein Buch, das kürzlich auf den Markt kam, aber es ist unwahrscheinlich, dass Kurnaz' Zeugnis, herausgegeben unter dem Title "Fünf Jahre meines Lebens" zum Bestseller taugt.

Dazu braucht es andere Protagonisten im Drama. Ein sympathisches Opfer, das die Emotionen des Publikums zu rühren versteht. Eine wie Hirsi Ali - zwangsbeschnitten und von einem Koranlehrer misshandelt. Und Täter als Sinnbilder des Verderbten. Klare Trennlinien eben, zwischen Gut und Böse.

In Deutschland liebt man die Eindeutigkeit. Und eindeutig ist nichts in dieser gewaltigen Inszenierung. Mitleid ist alles, womit ein Jemand wie Kurnaz im besten Falle zu rechnen hat. Bei diesem zotteligen, langen Haar und wirrem Bart. Und der Vorgeschichte.

Wir alle haben in den letzten Jahren gelernt: Es gibt Verwirrendes und Undurchschaubares in diesem Universum mit Namen Islam. Gefährliches, Doppelgesichtiges.

"Wir sind Murat Kurnaz" titelte die taz am 29. März 2007 einen bemerkenswerten und leidenschaftlichen Essay des Islamwissenschaftlers Navid Kermani. Seine Botschaft: An Kurnaz Geschichte wird abzulesen sein, was unsere Werteordnung uns wirklich gilt.

"Notwendige" Einreisesperre

Der Text erschien am Tag des lang ersehnten Auftritts von Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor dem BND-Untersuchungsausschuss. Inzwischen ist die Bundesrepublik zur Tagesordnung zurückgekehrt.

Sie gibt sich zufrieden mit der Erklärung des Ministers: Die Verantwortung der rot-grünen Bundesregierung habe die im Herbst 2002 verhängte Einreisesperre gegen Kurnaz gerechtfertigt. Sie sei nicht nur "möglich", sondern sogar "notwendig" gewesen.

Schließlich sei die Einschätzung der Sicherheitsbehörden, Kurnaz sei ein "Gefährder", "damals schlüssig und plausibel" gewesen. Im Zweifel für die Sicherheit.

Es fällt an diesem Punkt einer verwirrenden, vielschichtigen und offenen Erzählung schwer, sich vorzustellen, welchen Platz der Fall, der Name, der Mensch Murat Kurnaz im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland einnehmen wird.

Die Welt dreht sich weiter. Längst ist auch das Interesse derjenigen erlahmt, die noch vor wenigen Monaten empört über den kaltherzigen Umgang mit dem Guantanamo-Häftling aus Bremen waren.

Rechtswidrige Inhaftierung

Deshalb sei an dieser Stelle noch einmal erinnert: Bislang konnte dem Bremer keine einzige Straftat nachgewiesen werden. Kurnaz wurde bei einer Routinekontrolle von pakistanischen Sicherheitskräften festgenommen und im November 2001 in Afghanistan gegen ein Kopfgeld von 3000 Dollar an die US-Streitkräfte übergeben.

Er wurde als "feindlicher Kämpfer" eingestuft und im Januar 2002 nach Guantanamo verlegt. Am 31. Januar 2005 stellt eine Richterin des US-amerikanischen Bundesgerichts fest, dass Kurnaz' Inhaftierung rechtswidrig sei.

Bereits seit Januar 2002 war die deutsche Regierung über die Gefangennahme des Bremers informiert und kooperierte eng mit den amerikanischen Sicherheitsbehörden. 2004 kündigte der Bremer Innensenator an, dass Kurnaz nach seiner Freilassung nicht wieder nach Deutschland einreisen dürfe. Seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis war wegen seines mehr als sechsmonatigen Auslandsaufenthalts erloschen.

Das alles ist bekannt, schon seit geraumer Zeit. Trotzdem bleibt der Zweifel. Vom ehemaligen Innenminister Otto Schily nach Kräften genährt: Militärhose und Fernglas im Gepäck. Und warum Sehnsuchtsort Pakistan?

Für das Boulevard reicht das für alle Zeit, vom "Bremer Taliban" zu reden. Und was hätten sie tun sollen, die politisch Verantwortlichen jener Tage? Was anderes, als jede noch so kleine Wahrscheinlichkeit von Terror abzuwehren. Wo gehobelt wird, da brechen Menschen. Das Prinzip Guantanamo ist eingesickert in die Republik.

Nicht unser Fleisch und Blut

Murat Kurnaz. Er ist nur ein Muslim, ein Türke. Was haben wir Deutschen mit so einem zu tun? So lautet eine immer wieder gestellte Frage. Auch sie vergiftet das Land. Und sie teilt die Menschenrechte - in den Kreis der Berechtigten und der Verdammten.

Was bedeutet die einsetzende große Stille rund um Kurnaz? Und vergleichen wir sie mit dem aufgeregten Stimmengewirr rund um die RAF. Seit dreißig Jahren streitet die Republik um den richtigen, den rechtsstaatlichen Umgang mit erwiesenen Mördern. Immer wieder aufs Neue mit großer Leidenschaft.

Bei Kurnaz, der gegen niemanden die Waffen erhob, wird es bei der kurzen Saison der Aufmerksamkeit bleiben. Sollte es doch damit zusammenhängen, dass die einen unsere Killer sind, jener aber keiner von unsrem Fleisch und Blut?

Murat Kurnaz ist ein Lehrstück für Kinder aus Migrantenfamilien mit dem Titel: "Jungs und Mädels, so sieht es aus und das habt ihr von uns zu erwarten". Ein Crash-Kurs in der Inszenierung von Inklusion und Exklusion.

Ein Schmierentheater um die Verteilung und Versagung von Würde. Eine Parabel zur Teilbarkeit von Menschenrechten. Eine Beschämung für das ganze Land, das eine wichtige Bewährungsprobe nicht bestanden hat.

Eberhard Seidel

© Qantara.de 2007

Qantara.de

Murat Kurnaz: "Fünf Jahre meines Lebens"
Besser verbieten
Murat Kurnaz hat mit seiner Aussage vor dem Berliner Untersuchungsausschuss hochrangige Politiker in Erklärungsnot gebracht. Sein Buch bringt auch seine Leser in Bedrängnis: Wie können sie Zuschauer bleiben angesichts von Folter und Willkür? Julia Gerlach hat es gelesen.