Siegreicher Wackelkandidat

Zwar wird Hamid Karsai höchstwahrscheinlich die Wahl gewinnen, doch gilt der afghanische Präsident mittlerweile selbst als großer Unsicherheitsfaktor für den Westen, der deshalb noch stärker als zuvor nach politischen Alternativen zu Karsai suchen wird. Von Andreas Zumach

Wahlplakte Hamid Karsais in der Innenstadt von Kabul; Foto: AP
Wachsende Zweifel und tiefe Skepsis der westlichen Staatengemeinschaft am alten und voraussichtlich neuen Präsidenten - Wahlplakte Hamid Karsais in Kabul

​​Hamid Karsai, seit 2002 Präsident Afghanistans, wird mit großer Wahrscheinlichkeit den Auftrag erhalten, dieses Amt auch in den nächsten fünf Jahren wahrzunehmen. Das ist die einzige halbwegs sichere Prognose für die Präsidentschaftswahlen, deren erste Runde am vergangenen Donnerstag (20.8.) stattfand.

Völlig offen ist hingegen, wann und unter welchen Umständen Karsai seine zweite Amtszeit antreten wird. Und dass seine Wiederwahl dem kriegsversehrten Land am Hindukusch endlich mehr Stabilität und die Chance auf Frieden bringen werde, steht zwar als vage Hoffnung oder Durchhalteparole in den offiziellen Verlautbarungen der westlichen Regierungen, die – angeblich mangels Alternative – weiterhin auf Karsai setzen.

Hinter den Kulissen in Washington, London oder Berlin überwiegen jedoch ebenso wie in Moskau, bei der UNO sowie bei fast allen unabhängigen Beobachtern Zweifel und tiefe Skepsis.

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon rief die Afghanen jüngst zu "reger Wahlbeteiligung" auf. Damit würden sie "die demokratischen Institutionen stärken und frische Kraft in das politische Leben des Landes bringen". Dass dies gelingen kann, wird bei den Verantwortlichen für die politischen und humanitären Aktivitäten der UNO in Afghanistan allerdings bezweifelt.

Die UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (UNAMA) erklärte in einem in der zweiten Augustwoche veröffentlichen Bericht, die "unsichere Lage" in Afghanistan habe die Vorbereitungen zur Wahl "stark behindert" und im Wahlkampf zu "erheblichen Einschränkungen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit geführt".

UNAMA-Chef Kai Eide, der zugleich als Sonderbeauftragter des Generalsekretärs für Afghanistan firmiert, befürchtet, dass "die unsichere Lage erhebliche Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung haben wird".

Auch die für Nahrungsmittelhilfe und Wiederaufbaumaßnahmen in Afghanistan zuständigen Sonderorganisationen der UNO haben wegen der "verbreiteten Unsicherheit keinen Zugang zu weiten Teilen des Landes", erklärte Eides Stellvertreter Robert Watkins, der die humanitären Aktivitäten der UNO in Afghanistan koordiniert, in einem gleichzeitig veröffentlichten Bericht.

Deals mit Clan-Chefs und Warlords

Eide und andere UNO-Vertreter äußerten sich in den vergangenen Wochen auch öffentlich sehr kritisch und "bestürzt" (Eide) darüber, dass der Paschtune Karsai berüchtigte Warlords, Drogenbarone und andere für eine "Stärkung demokratischer Institutionen" (Ban Ki Moon) nicht gerade besonders qualifizierte Personen durch Bestechung und Postenzusagen auf seine Seite gezogen hat, um sich so ausreichende Unterstützung bei Tadschiken und Usbeken für seine Wiederwahl zu sichern – darunter den besonders brutalen usbekischen Milizenchef Abdul Raschid Dostum.

Hamid Karsai; Foto: AP
Politische Beobachter und Hilfsorganisationen rechnen mit nur geringen Chancen für eine Verbesserung der Sicherheitslage im Falle einer Wiederwahl Karsais.

​​Diese Manöver Karsais, so die Befürchtung der UNO, könnten neben der Angst vor Anschlägen viele Afghanen vom Gang zur Wahlurne abhalten.

Wie viele der 17 Millionen Afghanen ihre Stimme abgeben haben, und in wie vielen der rund 7.000 Wahllokale dies ohne Einschüchterung und Gefährdung möglich war, wird wahrscheinlich nie verlässlich ermittelt werden.

Denn "es gibt überhaupt nicht genügend afghanische Wahlbeobachter und ausländische schon gar nicht", kritisiert der seit vielen Jahren in Kabul lebende deutsche Afganistan-Experte Thomas Ruttig. Viele Regionen blieben unbeobachtet. "Was in diesen schwarzen Löchern bei der Wahl passiert", so Ruttig, "kann man nicht sagen".

Der Afghanistan-Experte rechnet daher mit massiven Manipulationen, zusätzlich zu den zum Teil bereits nachgewiesenen Fälschungen bei der Wählerregistrierung.

Drohende Proteste und Unruhen

Damit ist die Glaubwürdigkeit der Wahlergebnisse, mit dessen offizieller Bekanntgabe erst mit dem 17. September gerechnet wird, erheblich in Frage gestellt. Sollte Karsai dann zum Sieger erklärt werden, ist nicht auszuschließen, dass es zu gewalttätigen Unruhen ähnlich wie im Nachbarland Iran kommt.

Da Karsais Popularität seit seinem 55,4-Prozent Wahlsieg im Jahre 2005 allerdings erheblich gesunken ist, galt zuletzt als wahrscheinlicher, dass der Präsident die erforderliche absolute Mehrheit nicht erreicht, und Anfang Oktober eine Stichwahl zwischen ihm und seinem voraussichtlich erfolgreichsten Gegenkandidaten, Ex-Außenminister Abdullah Abdullah, stattfindet.

Der frühere Außenminister Abdullah Abdullah bei einer Wahlveranstaltung in Kandahar; Foto: AP
Aussichtsreichster Rivale Karsais ist der frühere Außenminister Abdullah Abdullah. Falls Karsai die absolute Mehrheit verfehlen sollte, dürften sich beide im Oktober in einer Stichwahl gegenüberstehen.

​​Auch bei diesem Szenario ist das Potenzial für Gewaltausbrüche nicht gebannt.

Abdullahs Kampagnenchef wurde Mitte August mit den Worten zitiert, eine Niederlage gegen Karzai werde man nicht akzeptieren. Mit Hinweis auf die Unruhen nach den Präsidentschaftswahlen im Nachbarland Iran fügte er hinzu, in Afghanistan werde es weniger glimpflich abgehen als dort, denn: "Jeder hat hier eine Kalaschnikow zu Hause".

Überraschungen sind natürlich nicht völlig auszuschließen. Vielleicht erreicht Karsai, wenn nicht bereits in der ersten Runde, so doch sechs Wochen später in der zweiten (und ohne zwischenzeitliche Unruhen) die erforderliche absolute Mehrheit so eindeutig, dass alle Manipulationsvorwürfe verstummen.

Doch selbst dann ist von einer weiteren Präsidentschaft Karsais keine wesentliche Besserung der Lage zu erwarten. Denn es gibt keine Indizien dafür, dass Karsai künftig seine ja längst auch in westlichen Hauptstädten scharf kritisierte Politik verändert.

Im Gegenteil: durch seine Absprachen, Postenzusagen und Manöver im Vorfeld der Wahl hat der Präsident die Einflussmöglichkeiten der Warlords und Drogenbarone, die kein Interesse an einer dauerhaften Befriedung und Stabilisierung Afghanistans haben, eher noch gestärkt – und damit auch seine Abhängigkeit von diesen Figuren.

Suche nach Alternativen zu Karsai

Die USA und die anderen an der internationalen Afghanistan-Mission beteiligten Staaten werden daher nach der Wahl noch stärker als zuvor vor der Notwendigkeit stehen, endlich ein Alternative zu Karsai zu finden.

Wahlkampfveranstaltung in der Ghazi-Provinz; Foto: AP
Obwohl die Afghanen in diesem Sommer mit Massenkundgebungen und Fernsehduellen einen richtigen Wahlkampf erlebt haben, blieb ein Teil der 17 Millionen Wähler wegen drohender Anschläge der Abstimmung fern.

​​Dabei geht es nicht nur um eine bessere personelle Alternative zu dem derzeitigen Präsidenten, sondern um eine grundsätzliche Korrektur der zentralistischen Strategie, die bei der großen Afghanistan-Konferenz im November 2001 auf dem Bonner Petersberg gewählt wurde.

Seinerzeit wurde vereinbart, in Kabul eine Zentralregierung unter einem Interim-Präsidenten (Karsai) einzusetzen und zunächst die Hauptstadt zu befrieden und unter seine Kontrolle zu bringen. Dann, so die damalige Vorstellung, solle sich die Stabilität von Kabul aus über das ganze Land ausbreiten.

Doch diese Strategie ist kläglich gescheitert. Sie konnte auch nicht funktionieren – selbst wenn man damals eine bessere Person für das Präsidentenamt gefunden hätte. Denn in der Geschichte Afghanistans gab es niemals eine Zentralregierung in Kabul, die tatsächlich das ganze Land regierte und unter Kontrolle hatte.

Selbst während der Taliban-Herrschaft bis Anfang 2002 war das nicht der Fall. Stattdessen lag und liegt die reale Macht immer bei lokalen oder regionalen Stammesführern, Warlords etc.

Die Annerkennung dieser historischen Tatsache hieße, dass die an der internationalen Afghanistan-Mission beteiligten Staaten endlich ernsthaft mit denen verhandeln müssen, die tatsächlich lokal und regional die Macht inne haben und Kontrolle ausüben – auch zwar unabhängig von deren Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis oder religiöser Überzeugung. Ziel dieser Verhandlungen müssen lokale und regionale Sicherheitsvereinbarungen sein.

Erst solche Vereinbarungen würden einen Rahmen geben für nachhaltige zivile Wiederaufbaumaßnahmen und die Zurückdrängung der Drogenwirtschaft mit glaubwürdigen Alternativen für Kleinbauern, die heute vom Mohnanbau leben.

UNAMA-Chef Eide hat völlig recht mit seiner Forderung, derartige Verhandlungen nicht nur mit so genannten "moderaten Taliban" zu führen, sondern auch mit anderen Fraktionen und Leuten hohen Ranges.

Solche Verhandlungen sind allerdings nicht vorstellbar unter den derzeitigen Rahmenbedingungen eines eskalierenden Krieges mit der von US-Präsident Barack Obama kürzlich ausdrücklich bekräftigten Zielsetzung eines militärischen "Sieges" über die Taliban und Al-Kaida.

Eine Zielsetzung, die längst gescheitert und auch für die Zukunft völlig unrealistisch ist. Bleiben die USA und ihre Partner in Afghanistan bei dieser gescheiterten Strategie und stärken damit die Taliban immer weiter, dürfte Hamid Karsai weitere fünf Jahre als Präsident kaum überleben.

Andreas Zumach

© Qantara.de 2009

Andreas Zumach, Jahrgang 1954, UNO-Korrespondent der taz mit Sitz in Genf, ist gelernter Volkswirt, Journalist und Sozialarbeiter. Seine letzte Buchpublikation "Die kommenden Kriege" erschien im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

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