Spuren des Krieges

Seit dem letzten Krieg im Gaza-Streifen hat dort die häusliche Gewalt gegen Frauen stark zugenommen - auch aufgrund der religiös legitimierten Unterdrückung durch die Hamas. Doch dank einiger NGO-Initiativen schöpfen viele Frauen wieder Hoffnung. Von Ruth Kinet

Seit dem vergangenen Krieg im Gaza-Streifen hat dort die häusliche Gewalt gegen Frauen stark zugenommen - auch aufgrund der religiös legitimierten Unterdrückung durch die Hamas. Doch dank einiger NGO-Initiativen schöpfen viele Frauen wieder Hoffnung. Von Ruth Kinet. Eine Reportage aus Gaza-Stadt von Ruth Kinet

Frauen in Gaza-Stadt erhalten Lebensmittellieferungen der UNRWA; Foto: AP
Frauen als Opfer militärischer Konflikte: Während des letzten Krieges sind viele Familien im Gaza-Streifen zerbrochen, auch hat die sexuelle Gewalt gegen sie weiter zugenommen, berichten NGO-Vertreter aus Gaza.

​​Wafa (Name von der Redaktion geändert) ist 55 Jahre alt. Ihren Körper verhüllt sie mit einem schwarzen Schleier. Seit einem halben Jahr ist sie geschieden. Endlich. Nach über 30 Ehejahren und ungezählten Gewaltausbrüchen ihres Mannes.

Wafa hat sechs Kinder, fünf Söhne und eine Tochter. Lange hat sie auf die Scheidung warten müssen, ärztliche Atteste beigebracht, bei der Polizei Anzeige gegen ihren Mann erstattet. Jetzt ist sie eine geschiedene Frau ohne eigene Wohnung. Sie schläft in der Diele einer Ein-Zimmer-Wohnung in Gaza-Stadt, in der ihr ältester Sohn mit seiner Frau und seinen Kindern lebt.

Wafa beklagt ihr Schicksal nicht. "Das ist das Los, das Gott mir zugedacht hat", sagt sie. Aber als sie von den dunkelsten Stunden ihres Lebens berichtet, füllen sich ihre Augen mit Tränen, ihr Kinn zittert. Sie versucht, stark zu bleiben, gibt dem Schmerz nicht nach. Darin ist sie geübt.

Regelrechte Folter

"Einmal hat mich mein Mann aufs Bett gelegt, Kerosin auf dem Bett verteilt, Feuer gelegt und die Zimmertür abgeschlossen", erinnert sich Wafa. "Ich habe um mein Leben geschrien. Die Nachbarn haben mich gehört und herausgeholt." Einmal hat ihr Mann ihr den Arm gebrochen. Auch die Kinder hat er gequält, manchmal regelrecht gefoltert.

Der Tochter zum Beispiel, hat er, als sie gerade mal sieben Jahre alt war, glühende Eisen auf die Hände gelegt. Oft hat er seine Kinder im Winter nackt auf die Straße gejagt.

"Er ist krank", sagt Wafa nüchtern. "Er leidet an einer Hyperaktivität des Gehirns." Aber auf eine medizinische Behandlung wollte er sich nicht einlassen. Und Wafa hat um der Kinder willen alles still ertragen. Kein Wort hat sie erzählt. Niemandem. Ihre Kinder sollten nicht in Verruf geraten.

Israelische Bodenoffensive im Gaza-Krieg; Foto: AP
Während des Krieges in Gaza zwischen Ende Dezember 2008 und Mitte Januar 2009 wurden nach palästinensischen Angaben mehr als 1.400 Plästinenser getötet und weitere 5.500 verletzt. Auch 13 Israelis kamen ums Leben.

​​ Heute sitzt Wafa im Büro von Ola Hassaballa, einer psychologisch geschulten Mitarbeiterin der NGO "Palestinian Working Women Society for Development", kurz PWWSD. Ermutigt von Ola Hassaballa, hat Wafa angefangen, über ihre traumatischen Erfahrungen zu sprechen. "Das hat mir sehr gut getan", sagt sie. "Ich habe gespürt, dass es noch gute Menschen auf der Welt gibt und das verleiht mir Hoffnung."

Sechs Beratungsstellen hat die PWWSD im Gaza-Streifen, sechs Anlaufstellen für Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind. Über einen Zeitraum von drei Monaten bekommt jede Frau einmal pro Woche eine Einzelsitzung bei einer Therapeutin.

Auch nach Abschluss dieser Therapiephase halten die Psychologinnen von PWWSD noch lange Kontakt zu ihren Klientinnen und begleiten ihre weitere Entwicklung. Diese Arbeit wird maßgeblich von der feministischen Friedensorganisation "cfd" aus der Schweiz finanziert.

Hysterie, Depression und schizoide Verhaltensweisen – das sind die häufigsten Diagnosen bei den Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, sagt Hassaballa. Vor allem im vergangenen Jahr haben die Beratungsstellen mehr und mehr Zulauf bekommen. Ola Hassaballa führt das auf den Krieg vom Januar 2009 zurück:

"Die Frauen stehen unter großem Stress. Während des Krieges sind viele Familien zerbrochen, vor allem die sexuelle Gewalt hat durch den Krieg sehr zugenommen, insbesondere in den Familien, deren Häuser zerstört wurden und die in einem Zelt leben müssen, in dem es keine Privatsphäre mehr gibt."

Freie Rede in geschütztem Raum

Deir al Balah, 20 Kilometer südwestlich von Gaza-Stadt. In einem abgewrackten Gebäude direkt neben einer Bomben-Brache aus dem letzten Krieg sitzen 12 schwarz verschleierte Frauen auf ungemütlichen Metallstühlen in einem nüchternen Raum mit kahlen Wänden.

Der Raum gehört zur örtlichen Niederlassung der NGO PARC ("Palestinian Agricultural Relief Committee"), einer vor 27 Jahren gegründeten Nicht-Regierungs-Organisation, die sich der Entwicklung ländlicher Gebiete und besonders der Unterstützung von Frauen verschrieben hat.

Zainab El Ghunaimi; Foto: Ruth Kinet
"Jede Frau, die in ihrer Ehe Gewalt ausgesetzt ist, kann die Scheidung beantragen. Aber in der Praxis zögern die Richter die Verfahren oft in die Länge", berichtet die Anwältin El Ghunaimi.

​​ Najàd (Name von der Redaktion geändert) trifft sich jeden Tag bei PARC mit den anderen Frauen. Ohne Scheu spricht sie über das, was ihr in ihrer Ehe widerfahren ist. Sie weiß, in diesem Raum ist sie geschützt: "Mein Mann hat mich mit einem Elektrokabel geschlagen. Ich habe es zuerst hingenommen und war geduldig. Dann hat er mich eines Nachts mit Elektroschocks misshandelt. Da bin ich geflüchtet."

Najàd ist seit zwei Jahren geschieden. In 23 Ehejahren hat sie zehn Kinder geboren. Ihr ältester Sohn ist 22, ihre jüngste Tochter drei. Ihr Mann heiratete noch vor der Trennung eine seiner Verwandten und warf seine erste Frau Najàd aus der gemeinsamen Wohnung. Seitdem ist sie obdachlos.

Weil sie keine eigene Wohnung hat, darf Najàd auch ihre vier kleinsten Kinder, die, die noch jünger als neun Jahre alt sind, nicht zu sich nehmen. Und die älteren Kinder darf sie auch nicht mehr sehen. So sieht es die Scharia vor, nach der im Gaza-Streifen alle Familienangelegenheiten geregelt werden.

Lässt sich ein Paar scheiden, geht das Sorgerecht für die Kinder mit Vollendung des neunten Lebensjahres auf den Vater über. Früher lag die Altersgrenze bei 15 Jahren. Seit der Machtübernahme der Hamas wurde sie auf neun Jahre zurückgesetzt, erklärt Islah Hassania.

Als Anwältin verteidigt Hassania Frauen beim Religionsgericht. Hassania arbeitet eng mit Zainab El Ghunaimi zusammen. El Ghunaimi ist auch Anwältin. Sie leitet ein Zentrum für die Rechtsberatung von Frauen, das unter anderem von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem "Global Fund for Women" unterstützt wird.

Religiös legitimierte Unterdrückung der Frauen

Jede Frau, die in ihrer Ehe Gewalt ausgesetzt ist, kann die Scheidung beantragen, sagt El Ghunaimi. Aber in der Praxis zögen die Richter die Verfahren oft in die Länge. Die Prozeduren seien bürokratisch und kompliziert, sagt sie.

Manche Frauen warten 15 Jahre auf ihre Scheidung: "Damit ein Gericht die Gewalt anerkennt, die eine Frau erlitten hat, muss sie schwer geschlagen worden sein. Sie muss das beweisen mit ärztlichen Attesten und muss bei der Polizei Anzeige erstatten. Manchmal reicht auch das noch nicht aus."

​​ Während des Scheidungsverfahrens gibt es für die Frauen im Gaza-Streifen keinen sicheren Zufluchtsort. Die Gründung eines Frauenhauses ist bisher immer gescheitert.

Die Gewalt der Ehemänner gegenüber ihren Frauen ist gesellschaftlich legitimiert, beklagt Reem Al Nairab. Für das Frauenzentrum "Woman's Affairs Center" (WAC) koordiniert sie ein Programm in Gaza-Stadt, das die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen mit zinslosen Kleinkrediten fördert. Oft hat Al Nairab Männer sagen hören, eine Frau sei wie ein Teppich. Je mehr er geschlagen werde, desto sauberer werde er.

"Das kriegt man schwer raus aus den Köpfen", meint Reem Al Nairab. "Viele Frauen sagen, mein Mann hat das Recht, mich zu schlagen. Ich bin selbst schuld, wenn er mich schlägt. Und sie berufen sich dabei auf den Koran."

Im 34. Vers der vierten Sure wird den Männern die Vollmacht und Verantwortung gegenüber ihren Frauen zugesprochen. Die Frauen haben demütig und ergeben zu sein. Sind sie es nicht, sollen sie ermahnt, der Schlafgemächer verwiesen und schließlich auch geschlagen werden.

Gegen diese religiös legitimierte Unterdrückung der Frau in der Ehe arbeiten Reem Al Nairab und ihre Kolleginnen vom Frauenzentrum mit Workshops an. Oftmals sprechen die Frauen dort zum ersten Mal über die Gewalttätigkeit ihrer Ehemänner, sie hören von der Universalität der Menschenrechte und der Gleichberechtigung der Geschlechter.

In Video-Kursen werden sie angeleitet, ihre Gewalterfahrungen filmisch zu dokumentieren. Im letzten Schritt geht es aber um die Gründung eigenständiger Existenzen. Die ökonomische Unabhängigkeit aber ist in dem vom Krieg zerstörten und der israelischen Blockade ausgetrockneten Gaza-Streifen meist kaum mehr als ein schöner Traum.

Doch Najàd hat inzwischen wieder den Mut gefunden, diesen Traum zu träumen und in die Zukunft zu schauen: "Ich will eine Arbeit, eine kleine Wohnung und ich will meine Kinder wieder sehen."

Ruth Kinet

© Qantara.de 2010

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