Splitter oder Spiegel?

Zum zehnten Mal findet in Nürnberg das Filmfestival Türkei/Deutschland statt. Es gibt einen Überblick über aktuelle türkische und deutsch-türkische Filme, mit dem Ziel, gegenseitige Vorurteile abzubauen und den Dialog zu stärken. Von Amin Farzanefar

Foto: Filmposter 'Kebab Connection'
Diesjähriger Publikumsrenner in Nürnberg: 'Kebab Connection' von Regisseur Anno Saul.

​​Die diesjährigen türkischen Produktionen des Festivals offenbaren eine ungeahnte Freizügigkeit in der Themenwahl: Vorbei scheinen die Zeiten, in denen Yilmaz Güney aus dem Gefängnis heraus Regieanweisungen geben musste, damit gesellschaftskritische Filme wie "Yol" umgesetzt werden konnten. Aktuell finden viele, lange verdrängte Themen ihre filmische Aufarbeitung.

Faible für Tabuthemen

Ein Paradebeispiel bot der Streifen "Kopf oder Zahl": Ugur Yücels Regiedebüt handelt von der Geschichte zweier junger Männer, ehemalige Soldaten, von einer Fülle bislang tabuisierter Themen.

So z.B. den vergessenen Krieg in den kurdischen Gebieten, der 30.000 bis 40.000 Menschen getötet hat, die so genannten Umsiedlungsaktionen - griechisch-türkische Vertreibungen, begleitet von Plünderungen und ethnischen Säuberungen. Und schließlich die Istanbuler Kriminellenmafia sowie obendrein noch das ambivalente Verhältnis einer Männergesellschaft zur Homosexualität.

Überhaupt griffen eine ganze Reihe Kurz-Dokumentar-Langfilme heikle Themen auf: Yesim Ustaoglu, die in ihrem Film "Reise zur Sonne" den Kurdistankrieg aufgegriffen hatte, wagte sich jetzt mit dem elegischen "Warten auf den Nebel" an die Geschichte der gewaltsamen Umsiedlungen, die während und nach dem Ersten Weltkrieg stattgefunden hatten.

Die alte Ayse, die in ihrem Dorf am Schwarzmeer immer ein wenig abseits gehalten hatte, wird am Ende ihres Lebens von ihrer Vergangenheit eingeholt, und entpuppt sich als Griechin. Und Dervis Zaim, wie Ustaglou Vertreter einer neuen Generation erfolgreicher Independent-Filmemacher, befragte in seinen Dokumentarfilm "Parallele Reisen" türkische und griechische Zeitzeugen zur Teilung Zyperns nach 1974.

Aufbruch oder Enttäuschung?

Doch wer im türkischen Kino einen neuen Aufbruch hin zu europäischen Grundwerten erkennen will, muss schnell die Grenzen feststellen: die Rolle des Militärs, die wachsende Macht der Islamisten und vor allem der Genozid an den Armeniern bleiben einstweilen Tabu-Themen.

Und Modernität misst sich eben nicht nur an der Brisanz des Inhalts, sondern auch an der angemessenen, formalen Vermittlung: Regisseure wie Reis Celik oder Kazim Öz – beide in Nürnberg zu Gast - versuchen sich schon länger an den düsteren Geschichtskapiteln.

Obwohl in Farbe gefilmt, sind viele dieser Politfilme in Schwarz-Weiss inszeniert: mit stereotyp gezeichneten Leidensfiguren – unterdrückte Kurden, Frauen oder Altlinke, die einseitige Botschaften mit übersteigertem Pathos und heroischer Pose kundtun.

Unterhaltungsindustrie und sinkendes Niveau

Politische Themen sind verhältnismäßig eher gering vertreten, was weniger an der staatlichen, als an der ökonomischen "Zensur" liegt: Intellektuelle, wie Adil Kaya, einer der Organisatoren des Festivals, beklagen eine generelle Entpolitisierung der türkischen Gesellschaft, die zunehmend auf die schnelle Lira setzt und nach Feierabend oberflächliche Fernsehprogramme mit "Big-Brother-Niveau" konsumiert.

Das Kino, das gegen die Dominanz von 300 Fernsehkanälen ankämpfen muss, hat in den letzten Jahren zwei Nischen gefunden: zum einen ein inhaltlich eher leichgewichtiges Popcorn-Kino, das ein Millionenpublikum für sich verbuchen kann, zum anderen ein mit einfachsten Mitteln produziertes, auf europäischen Festivals ungemein erfolgreiches Autorenkino, in dem politische Fragen meist nur an der Peripherie abgehandelt werden.

Ugur Yücel hat nun bei "Kopf oder Zahl" versucht, mit einer Doppelstrategie das erfolgreiche politische Kino früherer Tage wieder zu beleben: einerseits verpflichtete er mit Kenan Imirzaliogu einen Star des Mainstream-Kinos, andererseits griff er gleich mehrere brisante Themen auf, die er ästhetisch sehr ambitioniert umsetzte.

Angesichts von 270.000 Zuschauern - was für einen deutschen Autorenfilm eine achtbare Zahl wäre – kündigte er nun enttäuscht den Rückzug vom Publikumsfilm an, hin zum minimalistischen Kino für Liebhaber.

Ein Festival für alle

Wo die türkische Filmszene zersplittert erscheint, in unterschiedliche ökonomische, ästhetische, ideologische Interessen, versucht das Festival, alle Geschmäcker "unter ein Hut" zu bekommen, und das Kino als Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch zu verstehen.

Und tatsächlich: Im rechten Licht betrachtet, erscheinen die gezeigten Produktionen als gemeinsame, letztendlich erfolgreiche Anstrengung, das türkische Kino wieder auf Trab zu bringen und an jene Zeiten anzuknüpfen, als das Politkino eines Yilmaz Güney noch die Massen begeisterte, während gleichzeitig die Yesilcam-Studios 200 bis 300 Unterhaltungsfilme im Jahr produzierten.

In Nürnberg waren sie alle vertreten: kauzige Autorenfilmer wie Zeki Demirkubuz, Altstars wie die Yesilcam –Diva Hülya Kociyit, oder auch Tuncay Kurtiz, der bereits in Güneys Erfolgsfilm "Yol" mitgewirkt hatte.

Anil Sahin verleiht in Deutschland Kassenschlager wie "Insaat - die Baustelle", oder "Firuze – wo bist du?" - Paradebeispiele des oberflächlichen Seifenblasen-Kinos, doch nicht ohne satirische Seitenhiebe auf die neokapitalistische türkische Gesellschaft.

Und da es in Nürnberg vor allem um Dialog und Integration geht, hat hier das deutsch-türkische Kino immer schon eine Heimat gehabt. Aktuell waren die neuen Produktionen zu sehen, in der Jury saß der Gründervater und frischgebackene Grimme-Preisträger Tevfik Baser ("40 Quadratmeter Deutschland", "Zeit der Wünsche") neben Emine Sevgi Özdamar, Fatih Akin ließ sich als Ehrengast des Festivals auch kurz blicken.

Sein (Post-)Migrantenkino war in der Türkei eher als rein deutsche Angelegenheit betrachtet worden, doch nach dem Erfolg von "Gegen die Wand" hatte man in dem Hamburger plötzlich einen Landsmann wieder erkannt. Prompt wurde "Kebab Connection", der auf einer Idee Akins beruht, schon lange vor Deutschlandstart an den Bosporus verkauft.

Anno Sauls Film, der in Nürnberg den Publikumspreis erhielt, bot übrigens ein gutes Beispiel, wie sich die früher oft moralinsauer abgehandelte deutsch-türkische Problematik immer mehr in Richtung Humor und Comedy öffnet:

Ein "Hamburger Jung" will endlich einen Kung-Fu-Film drehen und muss stattdessen seine türkische Familie mit seiner bevorstehenden Vaterschaft konfrontieren. Da seine Freundin Zitzi rührigerweise eine Deutsche ist, gibt es allerlei Irrungen und Wirrungen, bis alle Ethnien, Generationen und Familienangehörige miteinander ausgesöhnt sind.

Dialog, Integration, Grenzgänge

Würde man heute, in Zeiten von EU- und Kopftuch-Debatten ein Festival etablieren, das türkische, deutsche und deutsch-türkische Filmwelten in einen Dialog bringen will, könnte man auf ein reges Medienecho bauen.

Das Filmfestival Türkei/Deutschland existiert bereits seit zehn Jahren und geht vielleicht gerade deshalb in der überregionalen Berichterstattung etwas unter - trotz seines hochklassigen Programms und seiner internationalen Gäste.

2005 hatte die Beauftragte für Kultur und Medien, Cristina Weiss, die Schirmherrschaft übernommen und damit Signale für eine angemessenere Würdigung gesetzt. Für die Zukunft wäre auf ein noch effektiveres Marketing wünschenswert, um mehr deutschstämmige Prominenz, die einen weiteren Zuschauerkreis anwerben könnte.

Panels und Diskussionsforen zu aktuellen Themen – da gibt es genug - würden auch die türkischen Gäste mehr einbinden, die sich wohl aufgrund der Sprachgrenze bisweilen etwas abseits hielten und den einen oder anderen Herrenverein eröffneten.

Angesichts der Zuschauerzahlen ist jedenfalls die Forderung nach einem Dialog eindeutig eingelöst worden: die Kinosäle waren voll, die Veranstaltungen nicht selten ausverkauft. Und die Zahl der deutschen Zuschauer stieg von 15 Prozent in den Anfangsjahren auf mittlerweile 40 Prozent.

Amin Farzanefar

© Qantara.de 2005

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