Funken ins Pulverfass

Es ist wohl dem Zufall der Nominierungen zu verdanken, dass die gespannten Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien ins Scheinwerferlicht der 63. Filmfestspiele in Cannes geraten. Hamid Skif stellt jene Produktionen vor, die für politischen Zündstoff sorgen.

Rachid Bouchareb; Foto: AP
Löste mit seinem Film "Hors la Loi" bereits im Vorfeld von Cannes eine politische Kontroverse in Frankreich aus: der franko-algerische Regisseur Rachid Bouchareb

​​"Hors la loi" (Vogelfrei) – so lautet der Filmtitel des franko-algerischen Regisseurs Rachid Bouchareb, der im Wettbewerb der Festspiele in Cannes läuft und bereits heftige Reaktionen konservativer französischer Politiker und rechtsextremer Kreise hervorgerufen hat.

Der Grund: Bouchareb hatte in seinem Film das Massaker vom 8. Mai 1945 in Sétif, im französisch besetzten Algerien thematisiert. Er sah sich daraufhin einer Vielzahl polemischer Angriffe konfrontiert. Der Film sei voreingenommen und "anti-französisch", hieß es aus den Reihen der Kritiker.

Suche nach den Verantwortlichen

Eine weitere Filmproduktion, Menschen und Götter (Des hommes et des dieux), unter der Regie von Xavier Beauvois, ist der Entführung und Ermordung der sieben Mönche des Klosters Thiberine südlich von Algier im Frühjahr 1996 gewidmet.

Die militante "Groupe Islamique Armé" (GIA) bekannte sich damals zu dem Anschlag. Doch im vergangenen Jahr hatte ein französischer General im Ruhestand den Tod der Mönche der algerischen Armee zugeschrieben, was insbesondere die franko-algerischen Beziehungen in Folge von offiziellen Verlautbarungen und anschließender Pressekampagne belastete.

Laut einiger französischer Quellen besteht kein Zweifel daran, dass die GIA entweder ein Produkt des algerischen Geheimdienstes ist oder aber von diesem manipuliert wurde.

Ein weiterer Film mit einem Algerien-Schwerpunkt in Cannes ist eine deutsch-französische Produktion von Olivier Assayas und trägt den Titel Carlos. Er zeichnet den Werdegang des berühmten Terroristen Ilich Ramirez Sanchez, alias Carlos, nach, der in den 1970er Jahren international von sich reden machte. Der Film greift die wohl bislang spektakulärste Geiselnahme des modernen Terrorismus auf: die der elf OPEC-Minister in Wien im Dezember 1975.

​​Das Flugzeug war nach Algier entführt worden, nachdem mehrere Länder ihm die Landeerlaubnis verweigert hatten. Eine der Filmsequenzen zeigt die Diskussionen zwischen Carlos und dem damaligen Außenminister und heutigen Präsidenten Algeriens, Abdelaziz Bouteflika, der damals mit den Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln betraut war. Dieser wird gezeigt, wie er Carlos einen Geldkoffer übergibt.

Algier verdächtigt den Regisseur Olivier Assayas, damit die Realität zu entstellen. Dieser Monumentalfilm, der schon in 17 Länder verkauft wurde, wird mit Sicherheit den Zorn der algerischen Regierung heraufbeschwören, umso mehr, als diese niemals gebeten wurde, ihre Sicht der Dinge darzulegen.

Algerien steht nun im Mittelpunkt der politischen Debatte, nachdem man über den Film Außerhalb des Gesetzes von Rachid Bouchareb selbst im Elysee-Palast spricht. Präsident Sarkozy bat sogar darum, den Film sehen zu können, noch bevor er in Cannes gezeigt wird.

Politischer Zündstoff

Angesichts der gespannten Beziehungen zwischen Algier und Paris besteht kein Zweifel, dass diese Filme auf beiden Seiten des Mittelmeers für Zündstoff sorgen werden.

Doch damit nicht genug: Ferner bedauern Historiker, dass Frankreich sich weigert, einen kritischen Blick auf seine koloniale Vergangenheit zu werfen. "Die Weigerung, zum Algerienkrieg Stellung zu beziehen, wird von einem bedeutenden Teil der französischen Gesellschaft negativ empfunden", erklärte der Historiker Benjamin Stora einer französischen Presseagentur.

Bei dieser Gelegenheit prangerte Stora auch die Kampagne gegen Boucharebs Film an, die bereits vor der Filmvorführung in Cannes lanciert wurde. Er schätzt, dass 60 Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens "dieser Krieg alles andere als in den Köpfen und Herzen beendet ist, weil er im kollektiven Gedächtnis geblieben ist und nicht verarbeitet wurde."

Gleichzeitig kritisiert Benjamin Stora, dass "Ereignisse wie die Massaker von Sétif, Guelma und Kherrata im Jahr 1945 im französischen Kino nicht vorkommen, nicht einmal andeutungsweise – das ist ein richtiges schwarzes Loch!"

​​Der Historiker erinnerte auch daran, dass der Verlust Algeriens "immer eine Wunde in der Geschichte des französischen Nationalismus bleiben wird", und dass "man sich weigert, den Verlust des französischen Algeriens zu betrauern."

Seiner Meinung nach wurde die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich auch kaum als Folge des algerischen Befreiungskampfes auf der Leinwand dargestellt – genauso wenig wie das Ende dieses Kampfes gegen die französischen Kolonialherren.

"Hysterische Kampagne"

In einem gemeinsamen Beitrag mit sieben anderen Historikern, der jüngst in der Tageszeitung Le Monde erschienen ist, sprach Stora von einer "hysterischen Kampagne" gegen den Film Vogelfrei.

Die von rechten Politikern geschürte Polemik gegen den Film bringt das Ungesagte einer Gesellschaft zu Tage, die, wie der französische Historiker betont, sich weigert, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu suchen. Bis heute behandeln nur wenige französische Bücher oder Filme den Algerienkrieg, der immerhin acht Jahre dauerte und Hunderttausende das Leben gekostet hat.

Gesetze machten es möglich, dass die Täter von ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit amnestiert wurden, und das, obwohl Frankreich bis heute selbstgefällig verkündet, die Heimat der Menschenrechte zu sein. Doch abgesehen von der blutigen Vergangenheit des Algerienkriegs ist es auch die Geschichte der Besatzung und die Zerstörung der Werte eines Volkes, die sich tief in das Gedächtnis der Algerier eingebrannt haben.

Dabei stellt die Bevölkerung des Maghreblandes keine besonderen Forderungen: Algerien hat weder finanzielle Entschädigungen für Kriegsschäden eingefordert, noch verlangt, dass Frankreich sich offiziell für seine Verbrechen entschuldigen müsse.

2005 bestand die französische Nationalversammlung hingegen auf ihr Recht, ein Gesetz zu erlassen, das die "positiven Aspekte der Kolonisation" rühmt. Seither wurde die Diskussion in Algerien wieder entfacht. Die Öffentlichkeit kritisiert die Regierung offen dafür, dass sie zu wenig Engagement und Mut im Umgang mit Frankreich zeige und sich zu zögerlich verhalte.

Hamid Skif

© Qantara.de 2010

Aus dem Französischen von Ursula Günther

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Qantara.de

Französisch-algerische Beziehungen
Die Schatten des kolonialen Erbes
Ein algerisches Gesetzesvorhaben, das die ehemaligen Kolonialverbrechen Frankreichs strafrechtlich ahnden soll, sorgt für neuerliche Spannungen im ohnehin belasteten französisch-algerischen Verhältnis. Einzelheiten von Bernhard Schmid

Entkolonialisierung Algeriens
Vor fünfzig Jahren begann der Befreiungskampf
Lange haben die Franzosen einen großen Bogen um dieses Kapitel ihrer Kolonialgeschichte gemacht. Der Algerienkrieg Mitte des 20. Jahrhunderts wird erst seit ein paar Jahren in seinen Schrecken und Folgen analysiert. Der blutige Befreiungskampf der Algerier begann vor 50 Jahren, am 1. November 1954. Tina Gerhäusser erinnert daran.