Mit dem Rücken zur Wand

Nach den jüngsten Festnahmen ranghoher Offiziere geraten die Militärs immer mehr unter Druck. Die Zeit, in der die Paschas hinter den Kulissen die Fäden gezogen haben, scheint damit endgültig vorbei zu sein, meint Jürgen Gottschlich.

Nach den jüngsten Festnahmen ranghoher Offiziere, die wegen Verschwörung zum Staatsstreich angeklagt werden, geraten die Militärs immer mehr unter Druck. Die Zeit, in der die Paschas hinter den Kulissen die Fäden gezogen haben, scheint damit endgültig vorbei zu sein, meint Jürgen Gottschlich.

Der türkische Ministerpräsident Erdogan (links) und General Ilker Basbug; Foto: dpa/DW
Kräftemessen zweier Erzrivalen: Dennoch wendet sich Ministerpräsident Erdogan gegen eine Ablösung von Generalstabschef Ilker Basbug, weil dessen Nachfolger nicht "die Gewähr für eine demokratische Gesinnung"</wbr> bietet.

​​ "Jahrzehntelang haben sie uns observiert, abgehört und Akten über uns angelegt. Jeder, dessen Frau ein Kopftuch trug und der konservative Meinungen vertrat, war verdächtig und wurde registriert. Das ist nun vorbei. Jetzt sind wir an der Macht, jetzt werden wir sie uns vornehmen."

Als der Abgeordnete der regierenden AKP, Avni Dogan, kürzlich diese Ankündigung öffentlich zum Besten gab, reagierte die Parteiführung höchst alarmiert. Avni Dogan wurde verwarnt. Ein Sprecher der Partei erklärte, bei allem, was die Regierung tue, gehe es keinesfalls um Rache, sondern um die Durchsetzung demokratischer Standards.

Trotzdem ging wohl dem größten Teil der Türken in der letzten Woche der Spruch von Avni Dogan wohl immer wieder durch den Kopf. Landesweit rückten Spezialkommandos der Polizei aus, um aktive oder pensionierte Generäle und andere hohe Militärs zu verhaften.

Ein Alptraum für das Militär

In einer für die Türkei bis dahin beispiellosen Aktion wurden 49 Paschas verhaftet, darunter fast der gesamte Generalstab der Jahre 2003 und 2004. Doch das war nur der Anfang. Während der amtierende Generalstabschef Ilker Basbug schockiert schwieg – er war von der Aktion offensichtlich nicht unterrichtet – wurden die Militärs einer nach dem anderen unter den Augen der Nation dem Haftrichter vorgeführt.

Militärparade anlässlich des 80. Jahrestags der Gründung der türkischen Republik; Foto: dpa
Das seit Jahrzehnten politisch tonangebende türkische Militär (seit 1960 gab es vier Staatsstreiche der Armee gegen zivile Regierungen) ist durch die Verhaftungswelle und die zahlreichen Anklagen in die Defensive geraten.

​​ Ihnen allen wird vorgeworfen, an der Planung eines Putsches gegen die Regierung Erdogan beteiligt gewesen zu sein. Angeblich war die Sprengung einer Moschee geplant, um eine Destabilisierung zu erreichen, ja sogar der Abschuss eines eigenen Kampfflugzeugs über der Ägäis, um es dann den Griechen in die Schuhe zu schieben.

Erst Tage nach den Festnahmen kam es zu einem Treffen zwischen Generalstabschef Basbug, Staatspräsident Abdullah Gül und Ministerpräsident Tayyip Erdogan. Basbug versicherte anschließend, das Militär werde sich selbstverständlich den Entscheidungen der Justiz beugen.

Zur Belohnung wurden am selben Abend noch die drei ehemals höchsten Generäle vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Doch der Alptraum für das Militär ist längst nicht vorbei.

Am Freitag letzter Woche gab es sogleich eine neue Verhaftungswelle. Und erst Anfang dieser Woche musste Basbug öffentlich zugeben, dass es einen weiterer Putschplan gegeben hatte, der bereits vor einiger Zeit öffentlich wurde – ein Plan, bei dem es sich entgegen seiner bisherigen Behauptungen nicht um eine Fälschung handelte, sondern der offenbar tatsächlich innerhalb seines eigenen Stabes ausgearbeitet worden war.

Verbindungen zum Ergenekon-Geheimbund

Seitdem steht das Militär endgültig mit dem Rücken zur Wand. Rund 50 hohe Offiziere sitzen nach den Festnahmen der letzten Woche in Haft. Dazu kommen weitere Ex-Generäle, die bereits 2007 und 2008 im Zuge der so genannten Ergenekon-Ermittlungen festgenommen wurden.

Ergenekon ist der Deckname für einen geheimen Zusammenschluss von Militärs, Bürokraten, Journalisten, Professoren und Richtern, die alle gemeinsam das Ziel hatten, die Regierung der islamischen AKP zu stürzen.

Etliche Sonderstaatsanwaltschaften im ganzen Land sind seit Mitte 2007 damit beschäftigt, dieses tatsächliche oder angebliche Netz von Verschwörern zu jagen.

Dabei wurde und wird extensiv abgehört. Nicht wenige türkische Intellektuelle, wie etwa der Soziologe und Kolumnist Haluk Sahin, beklagen, dass die Grenze zwischen potenziellen Putschisten und friedlichen Kritikern der Regierung längst überschritten wurde. "Es herrscht ein System der Einschüchterung."

Hatte das Land nach den ersten Verhaftungen hoher Militärs noch den Atem angehalten und sich ängstlich gefragt, ob nun als Antwort die Panzer rollen würden, sind diese Befürchtungen längst verflogen.

Türkei Krisentreffen mit Basbug; Foto: AP
Suche nach einem Ausweg aus der Krise: Nach seinem dreistündigen Gespräch mit Ministerpräsident Erdogan und General Basbug rief Präsident Gül im Streit über die Putschpläne der Streitkräfte zur Verfassungstreue auf.

​​Stattdessen wird nun über die vorzeitige Ablösung von Generalstabschef Ilker Basbug diskutiert.

Erdogan soll allerdings dagegen sein, weil sein turnusgemäßer Nachfolger nicht "die Gewähr für eine demokratische Gesinnung" biete.

Galt es bis vor einem halben Jahr noch als undenkbar, dass ein Regierungschef es wagen könnte, einen Generalstabschef einfach in den Ruhestand zu schicken, ist es mittlerweile so, dass man den amtierenden obersten Militär lieber noch im Amt belässt, bis eine befriedigende Nachfolgeregelung gefunden wird.

Der Machtverlust der Paschas

Damit geht in der Türkei eine 90jährige Republikgeschichte zu Ende. Die Zeit, in der die Paschas vor oder hinter den Kulissen die Fäden gezogen haben, ist endgültig vorbei. Das gibt Generalstabschef Ilker Basbug sogar selber zu. "Die Zeit, in der die Armee geputscht hat, ist vorbei", sagte er vor einer Woche.

Trotzdem ist die Stimmung im Land doch sehr verhalten. Bis auf wenige bekannte islamistische Kommentatoren, die gelegentlich die Siegesfanfare anstoßen, ist von Begeisterung über den Sieg über das Militär auf den Straßen nichts zu spüren.

Eine ständig steigende Arbeitslosigkeit, Angst vor Jobverlust und der tägliche Kampf gegen den sozialen Abstieg, bestimmen den Alltag der Mehrheit der Türken und Türkinnen, die schon lange das Gefühl haben, dass der Machtkampf zwischen Islamisten und Kemalisten von den wahren Problemen im Land ablenkt.

Anders sieht es unter Intellektuellen, Künstlern, Schriftstellern und Kulturschaffenden aus. Während die einen, wie der Chefredakteur von "Taraf", Ahmet Altan, oder auch der Nachfolger von Hrant Dink als Redaktionsleiter der armenisch-türkischen Zeitung "Agos", Etyen Mahçupyan, vehement die demokratischen Errungenschaften der AKP-Regierung verteidigen, fürchten andere, vom Regen in der Traufe gelandet zu sein.

Im Visier der islamischen Tugendwächter

Einer von ihnen ist Özen Yula, Autor und Dramaturg. "Ich fürchte um mein Leben", ließ er letzte Woche einen Sprecher des Istanbuler Off Theaters "Kumbaraci 50" mitteilen. Özan Yula ist Autor eines Stückes, das übersetzt heißt: "Lecke ab, aber schluck nicht hinunter".

Das Stück sollte in diesen Tagen uraufgeführt werden, wurde aber abgesetzt, weil Yula und die anderen Mitglieder des Ensembles massiv bedroht wurden. Im Stück geht es um einen Engel, der versucht, auf der Erde einen guten Menschen zu finden. Der Engel erscheint als verarmte Hausfrau, die als Pornodarstellerin ihren Unterhalt aufbessert.

Das genügte, damit die islamistische Tageszeitung "Vakit" eine regelrechte Hetzkampagne startete und mit dem Argument, gläubige Muslime seien entsetzt über das Schmierentheater, ein Aufführungsverbot forderte.

Die von der AKP geführte Bezirksverwaltung von Beyoglu ließ daraufhin das Theater versiegeln. Brandschutzbestimmungen seien nicht eingehalten worden. Ein bekannter Fernsehmoderator nahm sich der Geschichte an und sorgte immerhin für so viel öffentlichen Druck, dass das Bezirksamt zurückruderte. Doch aus Angst um Leben und körperliche Unversehrtheit der Schauspieler, sagte die Theaterleitung das Stück schließlich ab.

Das Schicksal dieses Theaters geht weit über den Einzelfall hinaus. Kunst, die nackte Haut zeigt, hat in der Türkei heutzutage ein großes Problem. Das mussten sogar die Macher der erfolgreichsten Fernsehserie des Landes feststellen. "Aşk-ı Memnu" (Verbotene Liebe), heißt die erfolgreichste Soap des türkischen Fernsehens, die auch in die arabischen Nachbarländer verkauft wurde und dort geradezu Kultstatus erreichte.

"Verbotene Liebe" auf dem Index

​​ Nachdem in Ländern wie Saudi-Arabien islamistische Geistliche bereits ein Verbot der Serie gefordert hatten, wird nun auch in Türkei diskutiert, "Verbotene Liebe" auf den Index zu setzen. Die Serie, die davon handelt, wie sich ein Mann in seine Schwägerin verliebt, untergräbt die Familienwerte des Landes, kritisierte die neue Familienministerin Aliye Kavaf unlängst. Seitdem prüft der Medienaufsichtsrat RTÜK ein Verbot.

Der Kulturkampf zwischen einer um ihre Freiheit ringende Gesellschaft und immer einflussreicheren religiösen Gruppen und Parteien ist aber nicht auf Theater, Film und Fernsehen beschränkt.

Im letzten Sommer mussten Besucher einer beliebten Kneipe direkt am Meer im Istanbuler Bezirk Moda feststellen, dass über Nacht Bier und andere alkoholische Getränke von der Karte verschwunden waren. Die Kneipe wird von der städtischen Fährgesellschaft verpachtet, die den Ausschank von Alkohol verboten hat.

Während an anderen Orten Alkoholverbote stillschweigend hingenommen wurden, gab es in dem sehr westlich orientierten Stadtteil Moda einen Aufstand. Wochenlang zogen Demonstranten mit Bier in der Hand vor die Kneipe und forderten das Recht, in ihrer Freizeit am schönsten Platz der Gegend auch Alkohol trinken zu dürfen. Als Antwort kam die Polizei und verprügelte die Leute so oft, bis sich niemand mehr traute, dort zu erscheinen.

Dabei ist Istanbul in den Augen vieler islamischer Eiferer natürlich immer noch ein Sündenpfuhl. In den meisten Städten Anatoliens ist es bereits unmöglich, noch eine Lizenz für Alkoholausschank zu bekommen. Großstädte wie Konya oder Kayseri sind praktisch alkoholfrei.

Angesichts solcher Entwicklungen werden auch lange erklärte Anhänger der AKP skeptisch. Einer von ihnen ist der Kolumnist Mustafa Akyol, der bislang die Regierung immer verteidigte. Vor zwei Tagen schrieb er: "Ich glaube, dass die politische Kultur der AKP immer mehr zum Autoritarismus neigt. Eine total von der AKP dominierte Türkei wird deshalb weder lustig noch frei oder demokratisch sein."

Jürgen Gottschlich

© Qantara.de 2010

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