Angst vor revolutionärer Ansteckungsgefahr

Die Legitimität der Palästinenserführung wird derzeit nicht nur durch die anstehenden Wahlen untergraben, sondern auch durch die Aufstände in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern erschüttert. Einblicke von Christian Sterzing

Solidaritätskundgebung für die ägyptischen und tunesischen Demonstranten in Ramallah, Foto: DW
Von der Autonomiebehörde mit Argusaugen beobachtet: Palästinensische Solidaritätsdemonstration für die aufständischen Zivilbevölkerungen in Tunesien und Ägypten

​​Im Schatten der dramatischen Ereignisse in Tunis und Kairo blieb es in Ramallah ziemlich ruhig. Kleinere Demonstrationsversuche von jungen Palästinensern in Solidarität mit dem ägyptischen Volksaufstand wurden von der Polizei der Palästinensischen Autonomieregierung rasch mit Knüppeln auseinandergetrieben, denn – so hieß es – ungenehmigte Spontandemonstrationen "würden lediglich Chaos verursachen".

Immerhin ließ man nach dem Sturz Mubaraks ein paar Hundert Palästinenser unbehelligt auf dem zentralen Manara-Platz in Ramallah feiern.

Die politische Führung der PA hielt sich in den vergangenen Wochen mit Solidaritätsadressen für die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sehr zurück. Zu eng waren die Verbindungen zu und die Kooperation mit dem Mubarak-Regime, das sich – in Person des ehemaligen Geheimdienstchefs Suleiman – in den letzten Jahren intensiv, wenn auch vergeblich für eine innerpalästinensische Aussöhnung zwischen Hamas und Fatah eingesetzt und immer wieder auch im Verhältnis zu Israel vermittelt hatte.

Kein überspringender Funke

Auch in Gaza hat der Funken aus Tunis und Kairo nicht gezündet. Das Hamas-Regime erlaubte zwar Sit-ins, doch Demonstrationen, die aus der Kontrolle hätten geraten können, waren ebenfalls nicht gerne gesehen. Den Sturz Mubaraks nimmt man in Gaza mit einer gewissen Genugtuung auf, denn ihm wurde nicht nur Kollaboration mit Israel vorgeworfen, sondern auch die brutale Unterdrückung der Muslimbruderschaft in Ägypten, aus der Hamas einst entstanden war.

Palästinenserpräsident Abbas; Foto: AP
Unter Druck: Präsident Abbas fürchtet auch in den Palästinensergebieten Unruhen und reagierte inzwischen durch Regierungsumbildungen auf die anhaltenden Korruptionsvorwürfe gegen einzelne Minister.

​​In Gaza erhofft man sich nun von einem neuen Regime in Kairo, dass es die ägyptische Blockade des Gazastreifens beendet. Der palästinensisch-ägyptische Grenzübergang Rafah ist seit einiger Zeit geschlossen und die Schwarzmarktpreise stiegen in den letzten Wochen, weil aufgrund der unruhigen Situation der Nachschub aus Ägypten stockte und die Israelis "aus Sicherheitsgründen" die ohnehin beschränkten Warenlieferungen in den Gazastreifen immer wieder unterbrachen.

Ganz ohne politische Folgen blieben die tunesische und ägyptische Revolution jedoch nicht. Die revolutionäre Ansteckungsgefahr scheint vor allem die Führung in Ramallah zu fürchten. Sie überraschte die Palästinenser mit einem demokratischen Präventivschlag:

Zum einen wurden für den 9. Juli die seit etwa zwei Jahren überfälligen Kommunalwahlen angekündigt, zum anderen soll es im September Wahlen auf nationaler Ebene sowohl für das Parlament, den Palästinensischen Legislativrat, als auch den Präsidenten geben.

Protest gegen Neuwahlen

Auch diese Wahlen standen gemäß dem palästinensischen Grundgesetz seit langem an: Der Präsident hätte Anfang 2009, das Parlament im Januar 2010 neu gewählt werden müssen. Die gewaltsame Machtübernahme durch die Hamas im Gazastreifen im Juni 2007 und die bis heute andauernde politische Spaltung zwischen der Fatah und der Hamas hatten jedoch alle Pläne zunichte gemacht.

Hamas-Anhänger in Gaza-Stadt; Foto: AP
Die Hamas lehnt die Abhaltung von Neuwahlen ab und erkennt auch Abbas nicht als Präsidenten an. Die Regierungsumbildung lehnte sie als "kosmetische Änderung" ab.

​​Der Protest der Hamas gegen die Wahlankündigungen ließ nicht lange auf sich warten: Keine Wahlen vor einer nationalen Versöhnung, schallte es aus Gaza. "Wir haben nichts gegen Demokratie – aber erst, wenn Palästina wiedervereinigt ist!", ließ ein Hamas-Sprecher verlauten.

Allerdings hat die Hamas bislang kein übermäßiges Interesse an einer nationalen Versöhnung mit der Fatah erkennen lassen, richten sich doch ihre politischen Bemühungen vorwiegend auf die Konsolidierung ihrer Macht im Gazastreifen, indem sie langsam aber sicher die Islamisierung der Gesellschaft vorantreibt und ihre autoritäre Herrschaft durch Verfolgung ihrer politischen Gegner festigt.

Aber auch ein verfassungsrechtliches Argument wurde nachgeschoben: Die "Regierung" in Ramallah habe für ein derartiges Unterfangen keine legale Grundlage. Das ist zweifellos richtig, denn die verfassungsrechtlich vorgesehenen Amtsperioden von Präsident und Parlament sind längst abgelaufen – aber diese Feststellung gilt auch für die "Regierung" in Gaza.

Allerdings konnte bislang kein Jurist einen Weg aufzeigen, wie angesichts der politischen Spaltung Palästinas und eines nicht arbeitsfähigen Parlaments (Hamas-Abgeordnete sitzen entweder in israelischen Gefängnissen oder dürfen nicht nach Ramallah reisen) im Einklang mit dem palästinensischen Grundgesetz eine verfassungsgemäße Regierung ins Leben gerufen und Wahlen angesetzt werden könnten.

Politische Legitimation durch Wahlen?

Die politisch entscheidenden Fragen sind jedoch erstens, ob mit Wahlen nur in der Westbank – und ohne Beteiligung der Hamas – die Spaltung nicht noch vertieft wird und zweitens, ob ein derart beschnittener Wahlprozess der Führung in Ramallah tatsächlich die erhoffte politische Legitimität zu verleihen vermag.

Wie nervös auf die Demokratisierungswelle in den arabischen Staaten auch in Ramallah reagiert wird, zeigt der nun vollzogene Rücktritt aller Minister im Kabinett von Premierminister Salam Fayyad.

Insbesondere die Fatah reklamiert seit längerem schon eine stärkere Repräsentanz im Kabinett, das der nicht der Fatah angehörende Salam Fayyad vorwiegend aus sogenannten unabhängigen Technokraten gebildet hatte.

Mit eigenen Ministern im Kabinett hofft die Fatah wohl besonders vor den Wahlen das eigene Profil zu stärken und von positiven Entwicklungen in der Westbank – ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung und eine Stabilisierung der sicherheitspolitischen Lage – zu profitieren.

Ob es ihr damit allerdings auch gelingt, über das eigene politisch-strategische und personelle Vakuum hinwegzutäuschen, muss bezweifelt werden.

Die Fatah konnte bislang die Zeit seit der verheerenden Niederlage gegen die Hamas bei den Parlamentswahlen 2006 nicht zu einer personellen und politischen Reaktivierung ihres alten Rufes als Vorreiter des Widerstands gegen die Besatzung und als Gestaltungskraft der palästinensischen Gesellschaft nutzen.

"Palileaks" und die Folgen

Nahost-Verhandlungsführer Sajeb Erakat; Foto: AP
Konsequenz aus der "Palileaks-Affäre": Der langjährige palästinensische Nahost-Verhandlungsführer Sajeb Erakat war als Konsequenz aus der Enthüllung von Dokumenten zum Friedensprozess zurückgetreten.

​​Die sogenannte "Palileaks-Affäre", die Veröffentlichung zahlreicher geheimer palästinensischer Dokumente aus den Friedensgesprächen mit Israel, die in den Augen vieler Palästinenser wegen zu großer Zugeständnisse an Israel einen drohenden "Ausverkauf palästinensischer Interessen", ja "Landesverrat" befürchten lassen, hat das Ansehen der Führung in Ramallah, insbesondere des Präsidenten Mahmud Abbas und seiner Fatah beschädigt.

Die Ankündigung von Wahlen bedeutet in Palästina nun erfahrungsgemäß nicht, dass diese auch stattfinden. Wahltermine hängen weniger von verfassungsrechtlichen Vorschriften ab als von Meinungsumfragen und antizipierten Wahlergebnissen. Hinzu kommt, dass die israelische Besatzungsmacht durchaus beansprucht, ein Wörtchen mitzureden.

Die (noch?) "einzige Demokratie" im Nahen Osten sympathisiert im Hinblick auf Palästina mit der bisherigen arabischen Praxis, Wahlen nur dann abzuhalten, wenn auch das gewünschte Ergebnis sichergestellt werden kann.

Die palästinensischen Parlamentswahlen 2006, bei denen die Hamas, die aufgrund amerikanischen Drucks – gegen das israelische Votum – zugelassen wurden, überraschend einen Erdrutschsieg verbuchen konnte, sind hier eine Lehre.

Eine nationale Versöhnung wäre daher die Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlprozess, doch daran haben derzeit weder Israel und die USA ein Interesse, noch zeigen Hamas und Fatah dafür wirkliche Bereitschaft.

Der Verdacht, dass die Ankündigung von Wahlen und die Umbildung des Kabinetts nur dem Zweck dienen, etwas Dampf aus dem palästinensischen Kessel zu nehmen, erscheint deshalb nicht abwegig.

Christian Sterzing

© Qantara.de 2011

Der Nahostexperte Christian Sterzing war langjähriger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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