Westjordanland: Gewalt israelischer Siedler gegen Palästinenser eskaliert

 Hinweisschild auf eine israelische Siedlung im Westjordanland.
Hinweisschild auf eine israelische Siedlung im Westjordanland. Foto: Tania Krämer/DW

Taybeh. Die jüdischen Siedler gaben den Beduinen eine Stunde Zeit, ihr Dorf zu verlassen. Die 200 Bewohner flohen zu Fuß mit ihren Schafen und Ziegen aus Wadi al-Seek im Westjordanland. "Wir müssen für das zahlen, was ihnen passiert ist", sagt Abu Baschar, einer der Anführer der kleinen Gemeinde und meint damit den brutalen Überfall der Hamas auf Israel von Anfang Oktober. Seither herrscht nicht nur im Gazastreifen Krieg, auch im Westjordanland eskaliert die Gewalt.

Am 12. Oktober seien dutzende Israelis - Siedler, Soldaten und Polizisten - in ihrem Dorf zehn Kilometer östlich von Ramallah aufgetaucht und hätten sie gezwungen, ihr Land zu verlassen, erzählen die Beduinen. Die israelische Armee ließ mehrere Anfragen der Nachrichtenagentur AFP zu dem Vorfall unbeantwortet.

Abu Baschar hat zusammen mit einem Dutzend anderer Familien auf einem Privatgrundstück in Taybeh nördlich von Ramallah Zuflucht gefunden. Aber der 48-Jährige möchte in sein Dorf zurück. "Ich kann nirgendwo anders hin, alle unsere Sachen sind dort, unsere Traktoren, unsere Solaranlagen."

Eine Woche nach der Vertreibung erlaubte die Armee den Dorfbewohnern, ihre Habseligkeiten abzuholen. "Aber alles war zerstört. Die Säcke mit dem Futter für die Tiere wurden auf dem Boden ausgekippt", schildert Abu Baschar. Sein Bericht deckt sich mit dem, was AFP-Reporter sahen: durchsuchte Häuser mit ausgeräumten Schränken, kaputten Kinderbetten, zerrissenen Vorhängen und auf dem Boden verstreuten Dokumenten, Sandalen und Spielzeug.

Seit Beginn des Gaza-Krieges haben sich die Angriffe von Siedlern auf Palästinenser mehr als verdoppelt. Habe es zuvor durchschnittlich drei Vorfälle pro Tag gegeben, seien es jetzt acht, teilte das UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten (Ocha) mit. Es berichtet von Einschüchterungen, Diebstählen und Übergriffen. Seit dem 7. Oktober wurden demnach 607 Palästinenser, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder, im Westjordanland vertrieben.

"Wir können nicht mehr schlafen, es ist ein Albtraum", sagt Alia Mlihat aus Muarradschat, einem anderen Beduinendorf zwischen Ramallah und Jericho. Die 27-Jährige hat Angst, dass ihr Dorf als nächstes dran ist. "Durch den Krieg haben die Siedler mehr Waffen. Wir erleben eine neue Nakba", sagt Mlihat. "Nakba" bedeutet auf Arabisch "Katastrophe" und steht für die Vertreibung von mehr als 760.000 Palästinensern bei der Gründung Israels 1948.

Mlihats Vorfahren mussten damals, wie die meisten palästinensischen Beduinen, die Negev-Wüste verlassen und zogen ins Westjordanland. Heute leben rund drei Millionen Palästinenser im Westjordanland, das Israel seit dem Sechstagekrieg 1967 besetzt hält. Inzwischen ist es von jüdischen Siedlungen durchzogen, die nach internationalem Recht illegal sind. Fast eine halbe Million Israelis leben dort.

Nach dem Überfall auf Israel, bei dem die Hamas israelischen Angaben zufolge 1400 Menschen tötete und 239 weitere entführte, konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Gazastreifen. Durch die massiven Luftangriffe Israels wurden dort laut den von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden mehr als 8300 Menschen getötet, die Hälfte von ihnen Kinder.

Doch der Krieg im Gazastreifen hat auch Unruhen im Westjordanland ausgelöst. Seit dem 7. Oktober wurden bei Zusammenstößen mit Soldaten oder Siedlern fast 120 Palästinenser getötet. "Die Siedler nutzen den Krieg, um das Gebiet C von nicht-jüdischen Menschen zu säubern", sagt der israelische Menschenrechtsaktivist Guy Hirschfeld. Gebiet C ist jener Teil des Westjordanlands, der unter alleiniger Kontrolle Israels steht.

Obwohl die Siedler in der israelischen Gesellschaft keine breite öffentliche Unterstützung genießen, haben sie starke Rückendeckung in der Regierung von Benjamin Netanjahu. 

Die Bundesregierung rief Israel am Montag auf, "alles zu unternehmen, um die Palästinenserinnen und Palästinenser vor den Aktivitäten extremistischer Siedler zu schützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen".

Der Ziegenzüchter Abu Baschar aus Wadi al-Seek wünscht sich nur eines: in Ruhe und Frieden in seinem Dorf leben zu können. Aber er glaubt nicht mehr daran. "Die Siedler haben einen langfristigen Plan, uns zu vertreiben", sagt er. "Jetzt haben sie die Gelegenheit genutzt es zu tun, während alle auf Gaza schauen." (AFP)