Verfassungskrise in Israel: Oberstes Gericht zu Anhörung über Justizreform-Gesetz zusammengetreten

In Israel ist der Oberste Gerichtshof zu einer Anhörung über das erste Gesetz der rechtsreligiösen Koalition von Regierungschef Benjamin Netanjahu zur umstrittenen Justizreform zusammengetreten. Erstmals in der Geschichte des Landes kamen am Dienstagmorgen alle 15 Richter des Gremiums in Jerusalem zusammen. Sie wollen die vom Parlament bereits verabschiedete sogenannte Angemessenheitsklausel auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen.



Die Klausel nimmt dem Obersten Gericht die Möglichkeit, Entscheidungen der Regierung als "unangemessen" einzustufen und diese außer Kraft zu setzen. Sollten die Richter das Regierungsvorhaben kippen, droht Israel eine Verfassungskrise. Oppositionsführer Jair Lapid brandmarkte das Gesetz am Dienstag als "unverantwortlich". "Die Änderung des Grundgesetzes, die heute vor Gericht verhandelt wird, ist kein Grundgesetz, sondern ein unverantwortliches Dokument", erklärte Lapid im Onlinenetzwerk Facebook.



Aus der Sicht von Justizminister Jariv Levin hingegen ist die Anhörung ein "fataler Schlag" für die Demokratie, da das Gericht zum ersten Mal erwäge, ein Grundgesetz zu kippen. "Das Gericht, dessen Richter sich selbst hinter verschlossenen Türen und ohne Protokoll auswählen, stellt sich über die Regierung, das Parlament, das Volk und das Gesetz", erklärte Levin. Dies bedeute nichts anderes, als dass das Gericht "keine Kontrolle und kein Gegengewicht" habe.



Am Abend zuvor hatten in Jerusalem wieder tausende Menschen gegen die Justizreform protestiert. "Demokratie! Demokratie!", skandierten die Protestteilnehmer und schwenkten israelische Flaggen. Laut israelischen Medienberichten bewegen sich die Regierung und die Opposition in der Frage auf einen Kompromiss zu. Regierungschef Netanjahu erklärte jedoch am Montag, er strebe "einen nationalen Konsens" an, um das "Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen".



Das Parlament hatte das Gesetz zur Einschränkung der Justizbefugnisse im Juli trotz anhaltender Proteste mit knapper Mehrheit verabschiedet. Die Kläger argumentieren, es schwäche die Pfeiler der israelischen Demokratie. Netanjahus Regierung, eine Koalition aus seiner Likud-Partei und rechtsextremen und ultraorthodoxen Parteien, erachtet die Gesetzesänderungen hingegen für notwendig, um die Machtverhältnisse zwischen Legislative und Judikative neu zu regeln.



Wegen der Regierungspläne gibt es seit mehr als einem halben Jahr Massenproteste. Zuletzt hatten am Wochenende wieder zehntausende Menschen gegen das Vorhaben demonstriert. (AFP)

 

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