Hunderttausende demonstrieren gegen Rechtsextremismus

Teilnehmer bei einer Demonstration gegen rechts in Hannover am 20.1.2024
Teilnehmer bei einer Demonstration gegen Rechtsextremismus in Hannover am 20.1.2024 (Foto: Moritz Frankenberg/dpa/picture alliance)
  • Demo in München wegen großen Andrangs beendet 

  • Steinmeier fordert Bündnis aller Demokraten 

  • Bundespolitiker begrüßen Kundgebungen 

  • Auch Wirtschaft warnt vor Fremdenfeindlichkeit und Extremismus 

Von Holger Hansen 

Berlin. In ganz Deutschland sind Hunderttausende Menschen den Aufrufen zu Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und ein weiteres Erstarken der AfD gefolgt. Der Zulauf war vielerorts weit höher als erwartet. In München beendeten die Organisatoren am Sonntag nach Rücksprache mit der Feuerwehr wegen Überfüllung vorzeitig eine Großkundgebung mit laut Polizei etwa 100.000 Teilnehmenden. Die Veranstalter sprachen von 200.000 Demonstranten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wertete die zahlreichen Kundgebungen wie Vizekanzler Robert Habeck als ermutigendes Signal. Auch aus der Wirtschaft kamen zunehmend Warnungen vor Rechtsextremismus und einem weiteren Aufstieg der AfD. 

Am Reichstag in Berlin hatten sich zu Beginn einer Kundgebung am späten Nachmittag nach Polizeischätzungen bereits 30.000 Menschen versammelt. Auch in Köln und Bremen gingen am Sonntag Zehntausende auf die Straßen. In Köln sprachen die Veranstalter von 70.000 Teilnehmenden, die Polizei von mehreren Zehntausend. Bereits am Samstag hatten nach Angaben von Veranstaltern bundesweit etwa 300.000 Menschen demonstriert. 

Den Anstoß für die Kundgebungen hatten Berichte über ein Treffen von Rechtsextremen in Potsdam gegeben, bei denen auch AfD-Funktionäre, Mitglieder der rechtskonservativen Werteunion und auch ein CDU-Mitglied anwesend waren. Dort soll über Pläne von Massenvertreibungen und Deportationen von Migranten gesprochen worden sein. Teilnehmer widersprachen den Darstellungen. Die Berichte lösten breite Empörung aus. 

Steinmeier: Aufstehen gegen Menschenfeindlichkeit 

"Sie stehen jetzt auf gegen Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus", sagte Steinmeier über die Demonstranten. "Diese Menschen machen uns allen Mut." Das Staatsoberhaupt rief in einer Videobotschaft zu einem Bündnis aller Demokratinnen und Demokraten auf. Die Zukunft der Demokratie hänge nicht von der Lautstärke ihrer Gegner ab, sondern von der Stärke derer, die die Demokratie verteidigten. "Zeigen wir, dass wir gemeinsam stärker sind", erklärte Steinmeier. 

SPD-Chef Lars Klingbeil sagte Welt-TV: "Es geht gerade wirklich um die Verteidigung der Demokratie und darum, dass die Anständigen in diesem Land laut und deutlich und klar werden." Bundeswirtschaftsminister Habeck sieht in den Demonstrationen ein ermutigendes Zeichen für die Demokratie. "Es ist beeindruckend zu sehen, wenn jetzt viele Menschen auf die Straße gehen und Flagge zeigen für unsere Demokratie", sagte der Grünen-Politiker der "Augsburger Allgemeinen". 

Landwirtschaftsminister Cem Özdemir wertete die Proteste auch als Hinweis an die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP, weniger zu streiten. Davon profitiere die AfD, sagte der Grünen-Politiker dem Deutschlandfunk: "Es geht auch darum, dass die Ampel aufhört, auch die demokratische Opposition von der CDU/CSU, dass wir uns wie Kesselflicker streiten und damit Leute in die Arme der AfD treiben." Auch Klingbeil wünschte sich weniger Streit in der Regierung. "Und das hilft dann auch im Kampf gegen die extremen Kräfte, gegen die populistischen Kräfte, die ja versuchen, dieses Land kaputt zu machen", sagte der SPD-Co-Chef. 

Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland begrüßte die Demonstrationen. Für die Jüdinnen und Juden sei dies ein Bild, "das wieder Vertrauen in die demokratischen Verhältnisse in der Bundesrepublik schaffen kann", sagte Zentralrats-Präsident Josef Schuster Welt-TV. Seit dem Überfall der radikal-islamischen Hamas auf Israel habe es "massive antisemitische Kundgebungen, auch antisemitische Vorfälle" gegeben, sagte Schuster. Diese Welle scheine etwas abgeflacht zu sein: "Aber eine erhebliche Verunsicherung gibt es auch heute noch bei jüdischen Menschen." 

Die Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt, Reem Alabali-Radovan, befürchtet nach den Berichten über das Treffen von Rechtsextremen und deren Pläne Rückschritte bei der Integration von Migranten. "Das Gefühl der Ausgrenzung ist noch größer als nach den Anschlägen von Halle oder Hanau", sagte die SPD-Politikerin "Zeit Online". 

"Alle, egal ob mit arabischem oder europäischem Hintergrund, fühlen sich angegriffen." Sie sei sicher, "dass jetzt in beinahe jeder Familie darüber geredet wird, wohin man auswandern könnte, was der Plan B wäre." 

Auch aus der Wirtschaft kommen zunehmend Warnungen vor Rechtsextremismus und einem weiteren Aufstieg der AfD. Joe Kaeser, der Aufsichtsratschef von Siemens Energy und Daimler Truck, forderte in einem Reuters-Interview Wirtschaftsvertreter auf, auf die Folgen von AfD-Wahlerfolgen hinzuweisen: "Wer die AfD wählt, entscheidet sich für den Verlust des Wohlstands unseres Landes und seiner Bürger." Die "Börsen-Zeitung" sammelte Stellungnahmen zahlreicher im Börsenbarometer Dax geführter Unternehmen, in denen sich die Firmen gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und "politischen Extremismus am rechten Rand" aussprachen. (Reuters)