Ein unbeugsamer Kämpfer und Visionär

Ahmed Seif al-Islam war einer der wichtigsten Menschenrechtsaktivisten Ägyptens. Er starb Ende August im Alter von 63 Jahren an den Folgen einer Herzoperation. Ein Nachruf von Andrea Backhaus aus Kairo

Von Andrea Backhaus

Er fährt sich noch über die kurz geschorenen Haare, räuspert sich. Dann spricht er ins Mikrofon. "Mein Vater war kein Übermensch. Er war wie wir", sagt Alaa Abdel-Fattah. "Er sprach von seinen Nöten, Schwächen und Fehlern, um eine höhere Botschaft zu vermitteln: Dass wir darauf beharren müssen, das, was richtig ist, zu verteidigen."

Im Auditorium der Amerikanischen Universität in der Kairoer Innenstadt brandet Beifall auf. Rund 700 Leute haben sich zu der Gedenkfeier für Ahmed Seif al-Islam eingefunden. Kollegen, Angehörige und Freunde wollen an dessen Schaffen erinnern, an jene Handlungsmaximen, die der berühmte Menschenrechtsanwalt ihnen hinterlassen hat. "Wir müssen wie er auf Gerechtigkeit pochen", sagt Abdel-Fattah.

Ahmed Seif al-Islam war einer der wichtigsten Menschenrechtsaktivisten Ägyptens. Er starb Ende August im Alter von 63 Jahren an den Folgen einer Herzoperation. Seif al-Islam führte laut "Human Rights Watch" die entscheidendsten Prozesse in Bezug auf Menschen- und Arbeitsrechte sowie politischen Aktivismus in der Mubarak-Ära.

Folter und Gefängnis

Vor allem aber war er ein Vorkämpfer. Unentwegt hat er sich gegen die Menschenrechtsverletzungen unter Hosni Mubarak aufgelehnt – und dafür einen hohen Preis gezahlt: In den 1980ern saß er fünf Jahre lang im Gefängnis. Dort wurde er geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert – Erfahrungen, die sein gesamtes späteres Wirken prägen sollten. "Ich beschloss, dass es nicht ausreicht, politisch aktiv zu sein, ohne sich auch mit Menschenrechten zu befassen", wird Seif al-Islam von "Human Rights Watch" zitiert.

Er studierte noch im Gefängnis Jura und begann nach seiner Freilassung 1989 als Anwalt zu arbeiten. Zunehmend widmete er sich der Bekämpfung von Folter und Justizwillkür.

"Er hat Generationen von Menschenrechtsanwälten geprägt", sagt ein Besucher auf der Gedenkfeier. "Auch in Momenten größter Angst hat er an seine Vision geglaubt." Dass Seif al-Islam mehr gewesen sei als ein Anwalt, betonen viele hier. Sie beschreiben ihn als unbeugsamen Kämpfer, als Mentor, Freund und Vorbild. "Er war kein Sklave des Gesetzestextes. Er verhandelte damit und lehrte uns, damit wie Forscher umzugehen", sagt der Anwalt Khaled Ali.

Im Dienste der ägyptischen Demokratiebewegung

Leila Soueif, Ehefrau von Ahmed Seif al-Islam; Foto: AP
Tiefe Trauer: Ahmed Seifs Ehefrau leila Soueif Leila Soueif ist Uniprofessorin und ebenfalls politische Aktivistin, genau wie ihre beiden Kinder, Alaa Abdel-Fattah und Sanaa Seif, die derzeit inhaftiert ist.

Doch Seif al-Islam hat nicht nur den Blick auf das Rechtswesen verändert. Zusammen mit seiner Familie hat er die Demokratiebewegung am Nil maßgeblich angetrieben. Seine Frau Leila Soueif ist Uniprofessorin und ebenfalls politische Aktivistin, so auch die drei Kinder.

Seine Tochter Sanaa Seif sitzt in Haft, weil sie für die Freilassung ihres Bruders, Alaa Abdel-Fattah, protestiert hatte. Der Blogger Abdel-Fattah, einer der Anführer der Massenproteste 2011, war im Juni mit 24 weiteren Aktivisten zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Ihnen wurde vorgeworfen, Ende 2013 einen illegalen Protest organisiert und so gegen das Demonstrationsgesetz verstoßen zu haben.

Das Gesetz hat weltweit Empörung ausgelöst, weil es das Versammlungsrecht massiv einschränkt. Abdel-Fattah ging in Berufung. Zudem trat er in einen Hungerstreik, nachdem er vom kritischen Zustand seines Vaters erfahren hatte. Etliche Unterstützer schlossen sich der Protestaktion an. Mit Erfolg: Abdel-Fattah wurde Mitte September auf Kaution entlassen, das Verfahren vorläufig ausgesetzt.

Jetzt sitzt Alaa Abdel-Fattah auf dem Podium und spricht mit gedämpfter Stimme von seinem Vater. Er hatte von dessen Tod im Gefängnis erfahren. Der Beerdigung durften er und seine Schwester Sanaa Seif unter strenger Bewachung beiwohnen. Sein Vater habe gerne viele Geschichten erzählt, sagt Abdel-Fattah. Etwa von seiner Zeit in der palästinensischen Widerstandsbewegung im Südlibanon. Davon, wie er dort Taxi fuhr, um seine Familie zu ernähren. Später trichterte er dem Sohn ein: "Wir können unseren Widerstand durch die Gerichte fortsetzen."

Ahmed Seif al-Islam wurde 1951 im Nildelta geboren. Als Student war er in der linken Bewegung aktiv. Er machte Abschlüsse in Politik, Wirtschaft und Jura. 1999 gründete er mit anderen das "Hisham Mubarak Law Centre", benannt nach dem 1998 verstorbenen Menschenrechtsaktivisten Hisham Mubarak. Mit dem Zentrum half Seif al-Islam Opfern von Folter und Menschenrechtsverletzungen.

Das "Hisham Mubarak Law Centre" als Drehscheibe der Protestbewegung

Um die politischen Ansichten seiner Klienten scherte er sich wenig: Er verteidigte Linke und Islamisten, Atheisten und Homosexuelle. Immer wieder übernahm er prekäre Fälle: 2001 verteidigte er etwa 52 Männer, die in einem Schwulenclub verhaftet worden waren. Auch vertrat er Karim Amer, der als erster Ägypter wegen regierungskritischer Blogeinträge vor Gericht stand. "Unsere größte Leistung ist, dass Rechtsfragen heute Teil des nationalen Diskurses, der akademischen Forschung, der Medien und des Anwaltsberufes sind", sagte Seif al-Islam 2007 "Human Rights Watch".

Alaa Abdel-Fattah; Foto: by-sa-cc
Alaa Abdel-Fattah: "Wir brauchen nicht durchzudrehen oder Verlust empfinden. Mein Vater hat uns alles hinterlassen, was wir brauchen, um seinen Weg weiterzugehen."

Während des Aufstandes 2011 wurde sein Zentrum zum Fluchtpunkt für die Revolutionäre vom Tahrir. Sie koordinierten von hier aus Proteste und Prozessvertretungen inhaftierter Demonstranten. Damit geriet Seif al-Islam selbst ins Visier der Sicherheitskräfte: Im Februar 2011 wurde er bei einer Razzia zusammen mit 30 weiteren Anwälten und Aktivisten für einige Tage verhaftet. Einschüchtern ließ er sich davon nicht. Seine Organisation blieb Treffpunkt für Menschenrechtler aller Couleur. Seif al-Islam war auch das mentale Sicherheitsnetz, auf das die jungen Dissidenten in Zeiten heikler Umbrüche vertrauten.

"Ohne ihn wird unser Widerstand gegen das Regime sehr viel schwerer", sagt eine Studentin vor dem Auditorium und zieht an ihrer Zigarette. Auch sie kämpfte für Mubaraks Sturz und erlebte dann die Brutalität des danach herrschenden Militärrates. „Jetzt scheint sich alles zu wiederholen.“ Tatsächlich setzte nach dem Sturz von Mohammed Mursi im vergangenen Sommer eine erbitterte Jagd auf die Kritiker der neuen Armeeführung ein. Mehr als tausend Anhänger der Muslimbrüder wurden bei Straßenkämpfen getötet, Tausende in den Folgemonaten verhaftet. Journalisten wurden von den Staatsmedien verunglimpft, dutzende junge Revolutionäre weggesperrt.

"Ägypten braucht mehr denn je Menschen wie Ahmed Seif al-Islam", sagt die Studentin noch. Seif al-Islam zog selbst kurz vor seinem Tod eine ernüchternde Bilanz zu den Entwicklungen in seiner Heimat. Bei der erneuten Verhaftung von Alaa im Januar sagte er vor Journalisten: "Ich hatte mir gewünscht, dass du eine demokratische Gesellschaft erbst, die deine Rechte schützt, mein Sohn. Stattdessen gab ich dir die Gefängniszelle weiter, die einst mich festhielt und nun dich festhält."

Die Besucher im Auditorium verstummen, als Alaa Abdel-Fattah nochmal ans Mikrofon kommt. "Wir brauchen nicht durchzudrehen oder Verlust empfinden. Mein Vater hat uns alles hinterlassen, was wir brauchen, um seinen Weg weiterzugehen." Hunderte Zuhörer erheben sich. Es folgt minutenlanger Applaus.

Andrea Backhaus

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