Die Wahrheit lässt auf sich warten

Vor drei Jahren gingen die Tunesier gegen Machthaber Ben Ali auf die Straße. Inzwischen lässt sich zwar eine demokratische Transition des nordafrikanischen Landes beobachten, doch warten die Opfer des einstigen Volksaufstands noch immer auf Gerechtigkeit. Von Sarah Mersch

Von Sarah Mersch

Die Wut ist groß, als die Revolutionsopfer und ihre Familien am 14. Januar 2014, drei Jahre nach dem Umsturz in Tunesien, auf die Straße gehen. Zum wiederholten Male hatten sie Aufklärung in ihren Fällen gefordert, oft vergeblich. Mohamed hält das Foto seines Sohnes Belgacem in die Luft. Am 14. Januar wurde er in Sousse, rund zwei Stunden südlich der Hauptstadt Tunis, erschossen.

"Er hatte morgens mit mir telefoniert und mich beruhigt, er gehe zur Arbeit." Dann hört er nichts mehr von seinem Sohn, der auf der Suche nach Arbeit die Heimatstadt nahe der algerischen Grenze verlassen hatte. Der Vater zählt die Tage, wartet im politischen Durcheinander auf eine Nachricht. Diese kommt erst 26 Tage später. Er könne die Leiche seines Sohnes abholen. "Das ist jetzt drei Jahre her und wir kennen den Täter immer noch nicht", erzählt Mohamed mit tränenerstickter Stimme.

Mohamed hält Plakat mit dem Bild seines getöteten Sohnes während einer Demonstration von Angehörigen der Revolutionsopfer in Tunis hoch; Foto: Sarah Mersch
Schrei nach Gerechtigkeit: Mohameds Sohn Belgacem wurde am 14. Januar in der tunesischen Hafenstadt Sousse erschossen. Vom Täter fehlt nach wie vor jede Spur.

Drei Jahre nach der Flucht Ben Alis und dem politischen Umbruch in Tunesien zieht sich die Suche nach der Wahrheit, was in den Tagen des Aufstands im Winter 2010 begann, in die Länge. Verschiedene Kommissionen untersuchen die Fälle, über die Zahl der Toten und Verletzten streiten sich Behörden, Ministerien und Opferverbände, vor den Militärgerichten werden mutmaßliche Täter vor Gericht gestellt – und kommen allzu oft glimpflich davon, beklagen die Anwälte der Opfer.

Aufarbeitung in der Schwebe

Kurz vor seinem Rücktritt Ende Januar 2014 hatte der ehemalige Regierungschef Ali Larayedh noch eine Reihe von Maßnahmen angekündigt – Sonderzahlungen, kostenlose Gesundheitsleistungen, Posten in der Verwaltung für die Verletzten und die Angehörigen der Toten. Doch die Aufarbeitung lässt auf sich warten.

Charfeddine Kellil verteidigt viele Märtyrerfamilien vor Gericht. Er hält die Prozesse für unausgewogen. "Verteidigungs- und Innenministerium verschleppen die Fälle. Sie haben kein Interesse, die Wahrheit ans Licht zu bringen." Es gäbe keinen politischen Willen zur Aufklärung, kritisiert der Anwalt vehement. 

"Ich habe Zeugen. Ich weiß wer meinen Sohn erschossen hat, aber die wollen davon nichts wissen. Seit drei Jahren lügen sie", schreit Mounira. Ihr Sohn Mohamed wurde bei Unruhen in Sidi Hassine, einem der ärmsten Vororte von Tunis, erschossen. Sie macht die Armee für die Tat verantwortlich. Da Sicherheitskräfte beteiligt sind, finden die Prozesse vor Militärgerichten statt. "Ich habe Anzeige erstattet und nichts bewegt sich. Die, die ihn getötet haben, sind die, die jetzt darüber richten. Klar dass dabei nichts herumkommt", meint sie. Das Verteidigungsministerium gibt zu den Prozessen keine Auskunft.

Auf der Suche nach der Wahrheit

Amna Guellali, Leiterin des Büros der Nichtregierungsorganisation "Human Rights Watch", beobachtet den Verlauf der Prozesse genau. In vielen Fällen wurde bereits Berufung eingelegt. "Es gab häufig in erster Instanz Verfahrensfehler und keinerlei ausreichende Untersuchung." Von politischer Absicht, die Wahrheit zu verschleiern, möchte sie aber zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sprechen.

"Es stellen sich Fragen, etwa nach dem Verbleib des Registers, welche Waffentypen in welcher Sicherheitseinheit eingesetzt wurden", so Guellali. Daraus ließen sich Rückschlüsse auf mögliche Täter ziehen. Doch es bleiben noch viele Fragen offen.

"Solange die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommt, können die Familien nicht trauern. Versöhnung ist so nicht möglich." Guellali hofft darauf, dass die Übergangsjustiz Licht ins Dunkel bringen wird. "Auch wenn die Maßnahmen der Aufarbeitung in den vergangenen drei Jahren fragmentarisch und unkoordiniert waren, ist es nie zu spät", meint sie. Reparationszahlungen seien zweitranging, es ginge vor allem um die Wahrheit.

Demonstration gegen Militärgerichte in Tunesien; Foto: Sarah Mersch
"Kein Vertrauen in das Militärgerichte": Seit der tunesischen Revolution im Januar 2011, die zum Sturz des langjährigen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali geführt hatte, sind zahlreiche Fälle der Opfer des Volksaufstandes noch immer nicht geklärt.

Das Ministerium für Menschenrechte und Übergangsjustiz kümmert sich jedoch im Moment vor allem um materielle und finanzielle Unterstützung der Opfer. Mit einem Sonderfonds, der sich aus dem Vermögen des ehemaligen Machthabers Ben Ali speist, versuche man, den 17 Schwerverletzten das Leben etwas zu erleichtern, erklärt Faouzi Sadkaoui, Sonderbeauftrager für die Revolutionsopfer.

Gerechtigkeit für die Revolutionsopfer

"Bei den meisten Querschnittgelähmten und Personen mit Amputationen handelt es sich um junge Leute, die ihr Leben noch vor sich haben. Das Schwierigste ist für sie oft, morgens aufzustehen. Wenn sie morgens die Augen aufmachen, haben sie Angst vor dem Tag, der sie erwartet. Wir müssen Bedingungen schaffen, dass sie ein ehrenwertes Leben führen können."

Doch noch ist völlig unklar, wer überhaupt Anspruch auf Entschädigungen hat. "Wir arbeiten wie alle Behörden mit einer Liste des Innenministeriums, die 2011 erstellt wurde: 3.727 Verletzte, 316 Tote – so die Bilanz", erklärt Sadkaoui. Doch auf dieser Liste fehlen einige Personen, andere sind gar keine Opfer. Jetzt arbeitet sich eine Kommission durch mehrere zehntausend Anträge. "Von Menschen, die Tränengas abbekommen haben, bis zu Schwerverletzten ist alles dabei", so Sadkaoui. "Wir sind 15 Personen in der Kommission, bis wir da durch sind, wird es noch dauern."

Ende 2013 wurde ein Gesetz zur Übergangsjustiz verabschiedet. Demnächst soll die Verfassungsversammlung die „Wahrheitskommission“ wählen, die in den nächsten Jahren die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Jahrzehnte leiten soll.

Faouzi Sadkaoui hofft darauf, dass dann auch den Revolutionsopfern Gerechtigkeit widerfährt. "Das ist für die Opfer psychologisch sehr wichtig." Auch die Akten, die seit 2011 vor der Militärjustiz verhandelt wurden, sollen dann erneut geöffnet werden, erklärt er. Amna Guellali sieht dies kritisch.

Natürlich sei es einerseits gut, wenn möglicherweise fehlerhafte Verfahren wieder aufgerollt würden, "andererseits verstößt das gegen die Grundregeln der Justiz, nach denen niemand für ein Verbrechen zur Rechnung gezogen werden kann, für das er schon verurteilt wurde", erklärt die Juristin, die früher am Internationalen Strafgerichtshof tätig war.

Guellali fürchtet eine Politisierung der juristischen Aufarbeitung. "Es wäre fatal, wenn die Übergangsjustiz nur dazu genutzt würde, alte Rechnungen zu begleichen." Auch Opferanwalt Charfeddine Kellil kritisiert das Gesetz. "Den Revolutionsopfern wird die Übergangsjustiz wenig bringen, sie werden nicht einmal in der Wahrheitskommission vertreten sein."

Voraussichtlich im April dieses Jahres wird die Kommission ihre Arbeit aufnehmen, um innerhalb von vier Jahren die Menschenrechtsverletzungen nicht nur im Zeitraum des Umbruchs von 2011, sondern der letzten 60 Jahre in Tunesien aufzuarbeiten.

Sarah Mersch

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de