Plädoyer für einen Weitwinkel-Blick auf die arabische Welt

Trotz aller IS-Hysterie ist die Terrormiliz doch nur ein Symptom in einer sich wandelnden Region, in der repressive Despoten und militante Islamisten sich noch einmal aufbäumen – auf Kosten ihrer Bevölkerungen. Ein Essay von Karim El-Gawhary

Von Karim El-Gawhary

Im Westen herrscht eine regelrechte IS-Hysterie. Wer nicht gleich blind alle möglichen militärischen Gegenmaßnahmen absegnet, wird fast des Zusehens beim Völkermord an Kurden, Christen oder der Jesiden bezichtigt. Kobanê wird von den Medien zur Entscheidungsschlacht hochstilisiert. Die Türkei wird in Talkshows gerne in einen Krieg nach Syrien geschickt, dem sich bisher alle anderen internationalen Streitkräfte verweigert haben, und die Kurden werden zu neuen Helden aufgebaut.

Wir sind in einen Wettbewerb getreten, wer die IS lauter und schneller - und zweifellos zu Recht - verurteilt. Wir klopfen uns auf die Schulter, der bessere Teil der Menschheit zu sein. Aber um eine Gegenstrategie zum IS zu entwickeln, ist das viel zu billig. Ich muss meinen Gegner verstehen. Woher kommt er, wie ist er entstanden, wie rekrutiert er, warum ist er erfolgreich? Nur wenn man das durchschaut hat, kann man sich überlegen, wie effektiv man gegen ihn vorgehen kann.

Um den IS zu verstehen, muss man nicht im Koran, sondern in einem Geschichtsbuch blättern und die Nachrichten der letzten Jahre in Syrien und im Irak Revue passieren lassen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Verstehen des IS ist hier nicht mit Verständnis für die Terrormiliz zu verwechseln. Es ist die Voraussetzung, eine zielgerichtete Gegenstrategie zu entwickeln.

Denn von der kann bisher keine Rede sein. Militärisch mag der IS punktuell durch Luftschläge aufzuhalten sein. Doch er wird sich an den jeweiligen militärischen Druck anpassen und kann sich jederzeit auf eine Guerilla-Strategie und Anschläge verlegen. Erneut hängt man im Westen der Phantasie nach, mit militärischer Kraft, durch vermeintlich präzise Luftschläge und Drohnenangriffe die geopolitische Landkarte zu verändern. Das hat schon im letzten Irak-Krieg offensichtlich nicht geklappt. Streng genommen ist der IS sogar eines der Ergebnisse dieses Versuches, militärisch Kräfteverhältnisse in seinem Sinne von Außen zu verändern.

Begrenzte militärische Strategie

Einer rein militärischen Strategie sind also eindeutige Grenzen gesetzt. Bleibt als Versuch, der IS den politischen Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Er ist ein Produkt zweier Entwicklungen: des blutigen Krieges in Syrien, dem man vier Jahre lang zugesehen hat und der manche Syrer so weit gebracht hat, im Islamischen Staat den Heilsbinger zu sehen. Dazu kommt die Lage im Irak, in der die alte sunnitische Elite des Landes vollkommen aus dem politischen System ausgeschlossen ist und sich von einem schiitisch dominierten politischen Bagdad über den Tisch gezogen fühlt.

IS-Miliz im Irak; Foto. AFP
Anpassungsfähig und schwer zu treffen: "Militärisch mag der IS punktuell durch Luftschläge aufzuhalten sein. Doch er wird sich an den jeweiligen militärischen Druck anpassen und kann sich jederzeit auf eine Guerilla-Strategie und Anschläge verlegen", schreibt Karim El-Gawhary.

In Syrien muss eine ernsthafte politische Alternative zu Assad aufgebaut werden, um den dortigen Krieg endlich zu beenden. Im Irak müssen die Sunniten wieder mit an Bord genommen werden, die in den letzten Jahren jegliches Vertrauen in das politische Nachkriegs-System seit der US-Invasion verloren haben. Beides ist schwierig und braucht vor allem eines: viel Zeit. Aber um dem Islamischen Staat politisch gesehen das Wasser abzugraben, gibt es keine schnellen Lösungen.

Dazu ist es auch notwendig, das Teleobjektiv in Richtung Kobanê abzuschrauben und gegen ein Weitwinkel auf die Region auszutauschen. Drei Dinge haben den IS groß werden lassen: Erstens ist die Terrororganisation auf dem Boden oder in der Nachbarschaft despotischer arabischer Regimes entstanden, die vor allem ihrer Jugend keinerlei Perspektiven bieten, aktiv ihre Gesellschaften und die Politik mitzugestalten.

Neben Syrien und dem Irak, gilt das vor allem für das Auslaufmodell der Ölmonarchien. Viele arabische Regierungen haben den Extremismus, den sie nun zu bekämpfen vorgeben, durch ihre repressive Politik gefördert. Die Golfdespoten setzten medienwirksam nun ihre eigene Luftwaffe gegen die IS-Stellungen ein, die Arabischen Emirate gar mit einer Pilotin als PR-Gag. Und der ägyptische Präsident Abdelfattah al-Sisi bringt den gesamten Dissens seines Landes zum Schweigen und versucht Ägypten als Bollwerk gegen den IS zu vermarkten.

Arabische Despotien als Teil des "Terror-Problems"

Das alles täuscht nicht darüber hinweg, dass staatliche Regime-Repression und islamistische Militanz mit dem jeweils anderen deren Existenz rechtfertigen und sich gegenseitig hochschaukeln. Die arabischen Despoten sind die wichtigsten Wegbereiter des IS.

Zweitens sind die Erfolge der Dschihadisten auch ein Ergebnis westlicher Politik und jahrzehntelanger kolonialer und postkolonialer Demütigung der Region, in der das Selbstbewusstsein der Menschen auf den Nullpunkt angelangt ist. Das ist die Basis, auf der ideologische und religiöse Rattenfänger erfolgreich eine 1.400 Jahre rückwärtsgewandte Utopie von besseren Zeiten unter dem Propheten vermarkten können.

Jahrelang hat der Westen die arabischen Despoten im Namen der Stabilität hofiert, nun betrachtet er sie erneut als wichtige Partner bei der Terrorbekämpfung. Derweil sind genau diese Regime nicht ein Teil der Lösung, sondern ein Teil des "Terror-Problems".

Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi; Foto: AFP
"Entweder wir oder sie": Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi rechtfertigt seine autoritäre Politik der harten Hand gegen Muslimbrüder und Demokratieaktivisten als alternativlose Notwendigkeit im Kampf gegen den Terror. "Er bringt den gesamten Dissens seines Landes zum Schweigen und versucht Ägypten als Bollwerk gegen den IS zu vermarkten", so El-Gawhary.

Das bringt uns zu dem dritten Faktor für eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen de IS: Die Terrormiliz baut auf einen herrschenden rückwärtsgewandten religiösen Diskurs, der eigentlich entstanden ist, um die überkommenen Öldespotien am Golf - allen voran Saudi-Arabiens - mit dem notwendigen ideologischen konservativen Überbau zu versorgen, um ihre überkommene Macht zu erhalten.

Alle drei Faktoren stehen in einer Wechselwirkung. Die Einflussnahme des Westens war so groß, weil er sich jahrzehntelang auf Despoten stützen konnte, die seine Interessen lokal vertreten und als Garanten der Stabilität auftreten konnten. Saudi-Arabien, eines der autokratischsten Länder der Region und das wohl frauenfeindlichste der Welt, ist bis heute einer der wichtigsten Verbündeten der USA und Europas in der Region. Und die Despoten waren so erfolgreich, weil sie die Köpfe der Menschen mit religiösen Diskursen füllen, die ihre Macht nicht herausforderte. Westlicher Stabilitätswunsch, die Repressionsapparate der arabischen Despoten und die Beschäftigung der Menschen mit erzkonservativen religiösen Formeln und Verhaltensregeln hatten ein gemeinsames Ziel: den Status quo möglichst nicht in Frage zu stellen.

Lehren aus dem Arabischen Frühling

Diese drei Faktoren müssen auch im Kontext des arabischen Wandels gesehen werden. Auch wenn viele heute zynisch auf den Arabischen Frühling blicken, so hat er doch besonders dem überwiegend jungen Teil der arabischen Bevölkerung gezeigt, dass das Alte herausgefordert werden kann. Dieser Gedanken, einmal im Kopf festgesetzt, lässt sich auch durch Repression nicht mehr auf Dauer verdrängen. Das wird mit dem Blick auf den Ist-Zustand der Region oft unterschätzt. Auch in Zeiten der arabischen Zensur bleiben die Gedanken frei.

In vielerlei Hinsicht, ist das, was wir derzeit in der Arabischen Welt erleben, ein Aufbäumen des Alten mit mehreren Gesichtern. Wir sehen den IS mit seinem rückwärtsgewandten Diskurs, der den Arabern ein Heilsversprechen liefert, dass alles gut wird, wenn erst einmal ein Kalifat entsteht, das sich am den Zeiten vor 1.400 Jahren ausrichtet.

Jugendliche in Kairo demonstrieren gegen die Militärführung ihres Landes; Foto: dpa
Verlorene Angst: "Auch wenn viele heute zynisch auf den Arabischen Frühling blicken, so hat er doch besonders dem überwiegend jungen Teil der arabischen Bevölkerung gezeigt, dass das Alte herausgefordert werden kann. Dieser Gedanken, einmal im Kopf festgesetzt, lässt sich auch durch Repression nicht mehr auf Dauer verdrängen".

Gleichzeitig erleben wir die Neuauflage autokratischer Regime, wie in Ägypten. Dort sucht man im alten gescheiterten Rezept der Allmacht der Militärs - wie zu Ära Gamal Abel Nassers vor einem halben Jahrhundert - die Rettung in diesen neuen ungewissen Zeiten. Und dann sind da noch die Golfmonarchien, die versuchen ihre hoffnungslos überalteten autokratischen Strukturen in die neue Zeit zu retten und die Petrodollars besitzen, dieses rückschrittliche Projekt zu finanzieren. Alt ist, nebenbei bemerkt, auch der internationale Ansatz, der immer noch meint, in üblicher Manier die Dinge mit militärischen Muskeln lösen zu können.

Weder Al-Sisi noch Al-Bagdadi

Am Ende werden sich all diese alten Gesichter perspektivisch als Sackgasse erweisen. Keiner von ihnen kann den Menschen eine wirkliche Perspektive bieten – weder die repressiven Staaten, noch die militanten Islamisten. Während sich das Alte allerorten aufbäumt, ist eine klassische Situation entstanden, aus der geradezu etwas Neues entstehen muss.

Doch wie das genau aussieht, wie blutig, wie repressiv und wie lange dieser Prozess dauern wird, bis dies entsteht, kann derzeit niemand sagen. Man will uns weismachen, dass es nur zwei Alternativen gibt: Repression oder islamistische Militanz: eine alte arabische Tradition. Aber am Ende der Geschichte des arabischen Wandels wird kein Feldmarschall Al-Sisi und kein Kalif Al-Bagdadi stehen.

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass der Einfluss Europas und der USA auf die Region abnehmen, und der der Regionalmächte zunehmen wird. Dass das Militär in der arabischen Welt als politische Ordnungsmacht nicht mehr funktioniert. Dass auch der Ölreichtum die Golfdespoten nicht vor der neuen Zeit retten wird. Dass im Kampf gegen den IS schon jetzt neue Bündnisse entstanden sind – sei es die kurdische PKK, die nun als Bollwerk gegen den IS gefeiert wird, die aber immer noch auf der europäischen Terrorliste steht, sei es der Iran, der sich rasant vom internationalen Paria zum Bündnispartner gegen die Dschihadisten wandeln wird. Alles befindet sich im Fluss.

Und zu guter Letzt, macht der Wandel auch nicht vor dem religiösen Diskurs Halt. In einer WIN/Gallup Umfrage beschrieb sich fast jeder fünfte der in Saudi-Arabien Befragten im Jahr 2012 als "nicht religiös". Fünf Prozent bezeichneten sich gar als Atheisten. Anfang dieses Jahres wurden in Saudi-Arabien neue weitreichende Anti-Terrorgesetze erlassen. Unter denen macht sich nicht nur strafbar, wer fortan in den Dschihad nach Syrien oder den Irak zieht. Auch, wer "die Fundamente der islamischen Religion in Frage zu stellt, auf denen das Land basiert", kann zukünftig als Terrorist abgestraft werden.

Die einen ziehen in den Dschihad, um die Zeiten des Propheten wieder herzustellen, die anderen stellen die Autorität der Religion in Frage. Das sind die zwei Seiten einer arabischen Medaille, wobei es sich lohnt, sie auch mal gelegentlich umzudrehen.

Karim El-Gawhary

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