Der Irak und die Büchse der Pandora

Es waren Bilder, die um die Welt gingen: Der Sturz der übergroßen Saddam-Statue in Bagdad am 9. April 2003 läutete eine neue politische Ära im Zweistromland ein. Doch der Euphorie über die neu gewonnene Freiheit folgte bald Ernüchterung. Von Nagih Al-Obaidi

Es waren Bilder, die um die Welt gingen: Der Sturz der übergroßen Saddam-Statue in Bagdad am 9. April 2003 läutete eine neue politische Ära im Zweistromland ein. Doch der Euphorie über die neu gewonnene Freiheit folgte bald Ernüchterung. Nagih Al-Obaidi informiert.

Sturz der Saddam-Statue am 9. April 2003 in Bagdad; Foto: AP
Den Moment des Sturzes der Saddam-Statue am 9. April 2003 feierten viele Iraker als "Tag der Befreiung"</wbr>, andere sehen in dem symbolischen Sturz den Beginn einer neuen, fremden Okkupation.

​​ Es gibt wohl kaum einen Tag, über den die Iraker mehr streiten als der 9. April 2003 – jener Tag, als die US-amerikanischen Truppen die irakische Hauptstadt einnahmen und der 35jährigen Baath-Diktatur ein Ende bereiteten.

Die einen nennen ihn den Tag der Befreiung, die anderen den Tag des Sturzes des alten Regimes. Und wieder andere betrachten dieses Datum als den "Beginn einer fremden und verhassten Okkupation".

Der von den USA eingesetzte Regierungsrat erklärte den 9. April zum offiziellen Feiertag, was wiederum zwei Jahre später von der neuen irakischen Regierung annulliert wurde. Der ehemalige Parlamentspräsident Mahmud Al-Mashhadani bezeichnete den 9. April gar als "schwarzen Tag in der Geschichte des Landes".

Trotz all dieser Differenzen steht eines fest: An jenem Tag wurde die alte Elite des Regimes hinweggefegt und eine neue politische Führung begann sich zu etablieren – verbunden mit vielen Hoffnungen. Aber was danach kam, überstieg jede Vorstellungskraft: Verheerende Terroranschläge, massive militärische Auseinandersetzungen, Gemetzel zwischen Schiiten und Sunniten mit zehntausenden Opfern.

Nur drei Wochen haben die US-amerikanischen Truppen gebraucht, um bis Bagdad vorzudringen und das Regime von Saddam Hussein zu Fall zu bringen. Während ihres langen Marsches stießen sie nur auf vereinzelten Widerstand, was nicht nur auf ihre militärische Überlegenheit zurückzuführen ist - die Mehrheit der Iraker war froh über den Sturz der verhassten Diktatur.

Das Dilemma der "implantierten" Demokratie

Anschläge gegen einen US-Stützpunkt im Irak vom März 2004; Foto: AP
Kurze Dauer des Bagdader Frühlings: Nach dem Sturz des alten Regimes kam es zu zahlreichen Terroranschlägen gegen die US-Armee sowie gewaltsamen ethnischen und religiösen Konflikten.

​​ Die Aufbruchsstimmung wurde zwar unmittelbar getrübt durch die im großen Stil einsetzenden Plünderungen und das im Land herrschende Chaos.

Dennoch glaubten viele trotzdem an einen möglichen Erfolg, da das Land als eines der wenigen im Nahen Osten über drei entscheidende Ressourcen verfügt: Wasser, Energie und eine relativ gut ausgebildete Bevölkerung.

Jedoch glich das Ende der Diktatur der Öffnung der Büchse der Pandora. Die nachfolgenden beispiellosen Gewaltexzesse machten deutlich, dass es keine "Befreiung zum Nulltarif" gibt.

Es liegt sogar der Verdacht nahe, dass militante Kräfte - ob Anhänger der Baath-Partei oder Al-Qaida-Terroristen -, der irakischen Bevölkerung und auch anderen Ländern des Nahen Ostens vor Augen führen wollten, dass jeder Versuch, sich mit Hilfe ausländischer Mächte vom einheimischem Despotismus zu befreien, eine fürchterliche Strafe nach sich ziehen wird.

Die Iraker kommentieren dies mit dem vielsagenden Sprichwort: "Angesichts des Todes akzeptiert man jede Krankheit".

Was im Irak in den letzten sieben Jahren geschah, scheint auch als Beweis für die Richtigkeit einer weit verbreiteten These islamischer Theologen zur Rechtfertigung des Despotismus herzuhalten, die besagt: "Lieber 100 Jahre ungerechte Herrschaft als einen Tag Chaos".

Welch abgrundtiefer Hass muss dahinter stecken, wenn islamistische Fanatiker aus fernen Ländern die Strapazen einer langen Reise auf sich nehmen, um sich auf belebten Marktplätzen, in Moscheen oder Krankenhäusern im Irak in die Luft zu sprengen? Selbst Trauer- und Hochzeitfeiern wurden nicht verschont. Und ihr Ziel war es stets, möglichst viele Menschen zu töten.

Der fanatische Wille, einen konfessionellen Bürgerkrieg zu provozieren, war ohnegleichen. Mitunter berichteten arabische Medien mit unverhohlener Schadenfreude über die Opfer der Gewalt im Irak. Und manche Iraker warfen die Frage auf, ob es sich wirklich gelohnt hat, die blutige Saddam-Diktatur zu beseitigen, um an ihrer Stelle Terror, Milizen und Todesschwadronen erdulden zu müssen.

Einen Schritt vor, zwei Schritte zurück

Drei Mal trotzten die Iraker den Terrordrohungen und gingen zahlreich zur Wahl, wie zuletzt am 7. März 2010 anlässlich der Parlamentswahlen. Und jedes Mal ließ die Enttäuschung nicht lange auf sich warten. Politiker verschiedener Couleur waren und sind noch immer mit ihren politischen Grabenkämpfen derart beschäftigt, dass jede Aufbruchsstimmung verpufft.

Proteste von Maliki-Anhängern gegen mutmaßlichen Wahlbetrug; Foto: AP
Ungewisse Zukunft für die irakische Demokratie: Proteste in Bagdad nachdem die Partei von Ministerpräsident Nuri al-Maliki die Rechtmäßigkeit von rund 750.000 abgegebenen Stimmen bei der letzten Parlamentswahl in Zweifel gezogen hat.

​​Während die Wähler stets großen Mut bewiesen, haben die neuen politischen Eliten bislang eindeutig versagt: Heillos zerstritten, opferten sie nationale Interessen auf dem Altar persönlicher, konfessioneller und ethnischer Konflikte im Kampf um Macht und Reichtum.

Die Politisierung der Religion, die unter dem alten Regime begann, schien unaufhaltsam und stellt bis heute ein großes Hindernis dar, die Bevölkerung unter einer nationalen Identität – unabhängig von Religion, Konfession und Nationalität – zu vereinen.

Anstatt die Verbrechen der Diktatur aufzuarbeiten, benutzten einflussreiche Kräfte die Entbaathifizierung als Instrument für ihre Rachefeldzüge und ihre Abrechnung mit dem politischen Gegner. Viele Reformen sind deshalb auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet stecken geblieben - und dies alles in einem regionalen Umfeld, das jeder demokratischen Entwicklung feindlich gesonnen ist.

Getrübte Aussichten für die Demokratie

Die Hoffnung, dass die Demokratisierung des Iraks Schule in dem von Diktaturen geplagten Nahen Osten machen könnte, hat sich bislang als Illusion erwiesen. Die irakischen Erfahrungen wirken auf die Nachbarn eher abschreckend.

Sehr oft antworten arabische Herrscher auf Forderungen nach mehr Freiheit, mit der Warnung: "Wollt Ihr denn, dass bei uns irakische Verhältnisse herrschen?"

Autoritäre Regimes - ob in Syrien, Libyen, Saudi Arabien oder im Iran -, sitzen heute fester im Sattel denn je zuvor. Sogar die US-amerikanische Administration unter Obama machte in Hinblick auf die Demokratisierung der Region einen Rückzieher. Sie steht nun nicht mehr auf ihrer Agenda. Nach den bitteren Erfahrungen im Irak und in Afghanistan bemüht man sich eher um Schadensbegrenzung.

Ohne Zweifel birgt die Zukunft verschiedene Szenarien. Das haben auch die letzten Parlamentswahlen bestätigt, die wesentliche Änderungen in der politischen Szene hervorgebracht haben.

Doch ob sich im Irak letztendlich eine funktionierende Demokratie entwickeln kann, hängt weitgehend vom Willen der politischen Eliten des Landes ab – und ob es diesen Eliten tatsächlich gelingt, ihre Konflikte künftig friedlich auszutragen.

Nagih Al-Obaidi

© Qantara.de 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Nagih Al-Obaidi ist gebürtiger Iraker und schreibt regelmäßig für zahlreiche arabische Zeitungen mit dem Schwerpunkt Wirtschaft und Reformen im Irak.

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