Bete – und alles wird gut

An deutschen Schulen werben Salafisten junge Menschen für den Dschihad an. Wie lassen sich die Jugendlichen schützen? von Arnfrid Schenk

Von Arnfrid Schenk

Über den Platz der Deutschen Einheit in Offenbach am Main verläuft eine Grenze. Eine Polizeiabsperrung teilt ihn an diesem Samstagnachmittag Ende Juni in zwei Hälften, von der Caritas auf der einen Seite hinüber zu einem Erotikshop auf der anderen Seite. Der Salafistenprediger Pierre Vogel hat sich angekündigt für eine seiner Open-Air-Veranstaltungen, mit denen er durch deutsche Städte tingelt. Das Motto in Offenbach: "Scharia – barbarisch oder perfekt?" Das zieht 200 Anhänger an, 400 Gegendemonstranten und einige Dutzend Journalisten.

Ein Lastwagen ist zur Bühne umgebaut. Pierre Vogel verspätet sich, sein Glaubensbruder, der Konvertit Abu Adam, bürgerlich Sven Lau, macht den Vorredner. Er wurde erst vor wenigen Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen. Er war angeklagt, dschihadistische Gruppen in Syrien zu unterstützen, das Verfahren wurde eingestellt, die Anhaltspunkte waren zu vage. Lau predigt, es sei doch aufrichtiger, offiziell mit vier Frauen verheiratet zu sein, als heimlich fremdzugehen. Er ruft ins Mikro: "Bete, und deine Probleme werden gelöst, das Gebet hält vom Kiffen ab, das Gebet hält vom Nichttragen des Kopftuchs ab."

Beifälliges Nicken unter den Anhängern. Überraschend viele Frauen sind dabei, sie stehen links vor der Bühne, nahe bei den Lautsprecherboxen, alle mit Kopftuch, viele verschleiert vom Scheitel bis zur Sohle, nur ein Schlitz für die Augen ist frei, sie tragen Taschen mit dem Aufdruck "Islam.ist.in". In der Mitte und rechts die Männer, viele in Sportkleidung, die meisten mit Bart, einige Konvertiten wandeln in arabischen Kutten. 

Salafisten streben einen Gottesstaat an

Anhängerin von Pierre Vogel bei Taschenkontrolle durch Polizisten vor der Kundgebung am 07.09.2014; Foto: picture-alliance/dpa/B. Roessler
Kundgebungen des Salafistenpredigers Pierre Vogel ziehen oft mehr als 200 seiner Anhänger an. Doch von den fünf Millionen Muslimen in Deutschland rechnet der Verfassungsschutz rund 6.000 der salafistischen Szene zu. Der gewalt- und terrorbereite dschihadistische Zweig ist zwar eine kleinere Gruppierung unter den Salafisten, dennoch sind diese Salafisten seit einiger Zeit nicht mehr nur Thema des Verfassungsschutzes, sondern auch für Lehrer, Eltern und Sozialarbeiter, schreibt Arnfried Schenk.

Die Salafisten sind fundamentalistische Muslime, die einen Gottesstaat anstreben, sie stellen die Scharia, das islamische Rechtssystem, über das Grundgesetz. Als Regelwerk für alle Fragen des menschlichen Zusammenlebens lassen sie allein den Wortlaut des Korans und die Überlieferungen des Propheten Mohammed gelten. Wer sich daran halte, werde mit dem Paradies belohnt, auf alle anderen warte die Hölle.

Von den fast fünf Millionen Muslimen in Deutschland rechnet der Verfassungsschutz etwa 6.000 zur salafistischen Szene. Die lässt sich in mehrere Gruppen einteilen, in eine puristische, der es nur um ein gottgefälliges Leben geht, eine politische, die durch Missionierung einen islamischen Staat anstrebt, aber Gewalt ablehnt, das ist die größte Gruppe. Und dann gibt es noch den gewalt- und terrorbereiten dschihadistischen Zweig. Wer sich zum Salafismus bekennt, ist noch lange kein radikaler Extremist, der nach Syrien in den Dschihad ziehen will. Aber alle, die dorthin gegangen sind, hatten vorher Kontakt zu salafistischen Gruppen.

Seit einigen Monaten sind die Salafisten nicht mehr nur Thema für den Verfassungsschutz, sondern auch für Lehrer, Sozialarbeiter und Eltern. Denn die Scharia-Verfechter rekrutieren im Umfeld von Schulen und Jugendhäusern. In Hamburg, in Berlin, in Nordrhein-Westfalen, vor allem aber in Frankfurt. Sie verteilen Flugblätter, bauen Aktionsstände auf und geben kostenlos Koranexemplare aus. Manche werben dabei unverhohlen für den Dschihad in Syrien. Und einige haben damit offenbar auch Erfolg. Experten schätzen, dass bisher 500 junge Männer aus Deutschland nach Syrien in den Bürgerkrieg gezogen sind, 100 sind zurückgekehrt, 25 umgekommen. Darunter waren auch Schüler.

Ein junger Mann Anfang 20 geht auf dem Platz der Deutschen Einheit in Offenbach mit einem grauen Plastikeimer herum. Spenden einsammeln, wofür, weiß er gar nicht so genau, irgendeine Hilfsorganisation. Warum ist er hier? Er erzählt, dass er gerade eine Ausbildung zum Mechatroniker macht, bald wird er damit fertig, danach würde er gerne so etwas wie Islamwissenschaften studieren. Seine Eltern sind nicht religiös, sein Vater ist Türke, die Mutter Serbin, Religion ist ihnen nicht wichtig. War es ihm auch nicht. Aber irgendwann spürte er eine Leere in sich, die er füllen musste. Der Islam war das richtige Füllmaterial.

Warum geht er nicht einfach in die Moschee, warum zieht es ihn zu den Salafisten um Pierre Vogel, der nun die Bühne betritt? Was die Imame in der Moschee predigen, verstehe er nicht, sagt der Spendensammler. Selbst wenn sie Deutsch redeten, es gehe an seinem Leben vorbei.

"Salafisten-Einsteiger sind religiös-theologische Analphabeten"

Sven Lau alias Abu Adam; Foto: picture-alliance/dpa/M. Scholz
Der Vorredner des Predigers Pierre Vogel, Sven Lau, wurde im Februar 2014 festgenommen und kam in Untersuchungshaft. Weil er versucht haben soll deutsche Staatsbürger zum Wehrdienst in einer militärischen Einrichtung anzuwerben wurde ihm schwere staatsgefährdende Gewalt vorgeworfen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde Lau aus Zweifeln an den Vorwürfen im Mai 2014 jedoch wieder aus der U-Haft entlassen.

Ein Mann in schwarzem T-Shirt gesellt sich dazu. Er gibt sich sichtlich Mühe mit seinem Bart. "Hast du gesehen, wie der Fernsehjournalist gerade gefragt hat, was wir von der Scharia halten? Er hat dabei mit der rechten Hand aufs linke Handgelenk gehackt. Die haben echt keine Ahnung, die Medien." Er schüttelt den Kopf. "Das wird doch nicht am Handgelenk gemacht, sondern hier", er zieht eine Linie auf der Handfläche, hinter den Fingern.

Was treibt Jugendliche aus Deutschland in die Arme der Salafisten? Lässt sich etwas dagegen tun? Wie können Eltern und Lehrer verhindern, dass ihre Kinder und Schüler sich radikalisieren?

Claudia Dantschke gehört zu den führenden Experten für Extremismus in Deutschland, seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit salafistischen Strömungen. In Berlin leitet die studierte Arabistin die Beratungsstelle Hayat, eine Einrichtung für Eltern, deren Kinder auf islamistische Abwege geraten sind. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fördert bundesweit insgesamt vier solcher Beratungsstellen.

Es ist nicht einfach, in diesen Wochen einen Termin bei Claudia Dantschke zu bekommen, ihre Einrichtung hat so viele Beratungsfälle, 63 sind es derzeit allein in Berlin, in zwölf Fällen ist eine Abreise nach Syrien zu befürchten. Pro Woche kommen gerade vier bis fünf Anfragen von besorgten Eltern dazu, die meisten davon aus gutem Grund.

Als es dann doch klappt, redet Claudia Dantschke zweieinhalb Stunden lang, schnell, unterbrochen nur durch gelegentliche Züge aus ihrer Zigarette. Sie erzählt davon, dass das Internet bei der Rekrutierung eine große Rolle spielt und dass sich in den salafistischen Gruppen Jugendliche aus allen Schichten finden. Nicht nur die bildungsfernen, die Schulversager, auch solche, die in der Schule gut zurechtkommen; nicht nur Kinder von muslimischen Einwanderern, sondern auch Kinder aus "herkunftsdeutschen" Familien. Sehr viele kommen aus bikulturellen Familien, in denen der Vater aus einem muslimischen Land stammt, die Mutter aus Deutschland.

Für alle gilt: Sie haben ihren Platz im Leben noch nicht gefunden, suchen nach einer Identität, haben einen labilen Charakter. Ihre Eltern sind oft zu autoritär oder desinteressiert an den Bedürfnissen ihrer Kinder. Und noch eine große Gemeinsamkeit haben die Salafisten-Einsteiger: "Sie sind alle religiös-theologische Analphabeten", auch die Konvertiten, "Ramadan-Muslime" und "Weihnachtschristen" nennt sie Dantschke. Jugendliche aus konservativen religiösen Familien landen nur selten bei den Salafisten.

Familien stärken - gegen Extremismus und Gewalt

Die Fundamentalisten bieten ein einfaches Weltbild, eingeteilt in Gut und Böse, dazu die Garantie, ins Paradies zu kommen, wenn man so lebt, wie sie es sagen. Aus Verlierern werden Gewinner. Endlich haben die Jugendlichen das Gefühl, irgendwo dazuzugehören.

Hinzu kommt: Viele, die in diese Kreise abdriften, sind noch in der Pubertät, ihr Schritt in Richtung Salafismus ist eine gute Gelegenheit, um zu provozieren und sich von den Eltern abzugrenzen. Die Religion an sich spielt da oft eine nachgeordnete Rolle.

Claudia Dantschke; Foto: AYAP
Claudia Dantschke studierte Arabistik und beschäftigt sich als Journalistin und Publizistin vor allem mit dem Thema „Salafismus in Deutschland“. Die Islamismus-Expertin sieht eine große Gefahr an deutschen Schulen und Jugendhäusern, wo immer mehr Jugendliche von Salafisten rekrutiert werden.

Claudia Dantschke erzählt die Geschichte eines Mädchens aus einer Stadt in Hessen. Sie ist 14 Jahre alt, verliebt sich in einen türkischstämmigen Jungen. Er kommt aus einem salafistischen Milieu. Sie will dazugehören, anerkannt werden und konvertiert zum Islam. Die Eltern versuchen, es ihr zu verbieten. "Das geht immer in die Hose", sagt Claudia Dantschke. "Die Jugendlichen verteidigen dann ihre Freunde, es geht gar nicht um den Islam an sich."

Das Mädchen legt das Kopftuch an, dann den Hidschab, ein weites, den Körper verhüllendes Gewand. Von Freundinnen, die sie kritisieren, schottet sie sich ab. Zu Hause herrscht für die 14-Jährige nur noch Kampf, in der Gruppe um ihren Freund fühlt sie sich verstanden. Sie steht nachts auf, um die Gebetszeiten einzuhalten, ist hundemüde, wenn sie zur Schule muss, sie ist tagsüber kaum noch zu Hause, meist in einer Moschee. Je mehr die Eltern sie bedrängen, umso mehr macht das Mädchen dicht. Ein Teufelskreis.

Hier versucht Claudia Dantschke zu helfen. Sie führt lange Gespräche mit den Eltern, erklärt, dass es wichtig ist, zuzuhören, zu fragen: "Warum machst du das?"; dass Verbote nur das Gegenteil bewirken; dass es wichtig ist, das Kind dazu zu bringen, eigene Antworten zu geben, keine vorgestanzten Phrasen der Salafisten. Nach zwei Monaten Beratung ruft die Mutter an, sie und ihre Tochter reden wieder miteinander.

Claudia Dantschke sagt, man müsse sich so eine salafistische Gruppe als Raum mit vielen Fenstern nach draußen vorstellen, eines nach dem anderen schließe sich, aber das der Familie bleibe am längsten offen. "Wir machen die Familien fit dafür, dass es immer offen bleibt."

Arnfrid Schenk

© Die Zeit 2014