Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre

Jungen sind stark und mutig, Mädchen keusch und gehorsam. Gegen diesen traditionellen Ehrbegriff in muslimischen Familien treten die Berliner "Heroes" an. Sie ermutigen Schüler, überlieferte Rollenmuster zu durchbrechen. Von Heiner Kiesel

Von Heiner Kiesel

In dem kleinen Theaterstück ist das türkische Mädchen Zeynab noch nicht nach Hause gekommen, und ihren Vater macht das unruhig. "Kümmer' dich mal drum, los!", fordert er seinen Sohn auf. Wie es sich für einen türkischen Jungen gehört, springt Mert Albayrak sofort auf und sucht seine Schwester. Der junge Mann mit türkischen Wurzeln spielt den Sohn im Rollenspiel vor der 8. Klasse der Berliner Ferdinand-Freiligrath-Schule. Er ist mit dafür verantwortlich, dass sich die Frauen in der Familie gehorsam und tugendhaft verhalten. Alles andere würde der Familie Schande bereiten.

Die 14-jährigen Berliner Schüler verfolgen das Rollenspiel gespannt. Viele von ihnen haben türkische oder arabische Eltern oder Großeltern und kennen die Situation aus ihrer eigenen Familie. Wie geht man damit um? Rona Bektas, der die Schwester spielt, und Mert Albayrak zwingen die Schüler, darüber nachzudenken. Die beiden Männer Anfang 20 gehören zum Berliner Projekt "Heroes gegen Unterdrückung im Namen der Ehre". 35 Heroes gibt es inzwischen in Berlin, 20 davon sind in den Workshops aktiv. Mehrmals im Monat gehen sie an Berliner Schulen, um mit den Jugendlichen über den Begriff der "Ehre", männliche Macht, Identität, Gleichberechtigung und Menschenrechte zu diskutieren. Werte, die in traditionellen muslimischen Familien häufig anders ausgelegt werden als in der deutschen Gesellschaft.

Wer ist eigentlich ehrenlos?

Die Schüler sind sich dabei einig, dass die "Ehre" äußerst wichtig ist. Ein Bruder müsse dafür sorgen, dass die Leute nicht schlecht über seine Schwester reden, betonen einige Jugendliche. Im Rollenspiel lösen Rona und Mert das Problem friedlich: Zeynab soll zu Hause anrufen und selbst mit "Baba" ausmachen, wie lange sie weg bleiben darf. "Ihr könnt erst mal überlegen, ob Ihr Eure Schwester zwingen sollt, mit Euch zu gehen", sagt Rona. Einige in der Runde nicken, der Rest bleibt skeptisch.

Theaterpädagoge Yilmaz Atmaca (rechts) hört den Jugendlichen von Heroes aufmerksam zu; Foto: AP
Sie nennen sich selbstbewusst "Heroes": Die jungen Migranten aus Berlin-Neukölln engagieren sich im Kampf gegen Unterdrückung von Frauen "im Namen der Ehre" und wollen gängige Klischees und Vorurteile abbauen.

Der Workshop ist bewusst darauf ausgelegt, keine Antworten zu geben. "Die Schüler sollen ihre Vorstellungen hinterfragen und selbst einen Weg finden", meint Yilmaz Atmaca, der vor sieben Jahren die Heroes in Berlin mit aufgebaut hat. Damals gab es kaum Projekte, die sich für die Prävention von sexueller Gewalt in Migrantenfamilien eingesetzt haben. Dort gibt es noch immer einen Verhaltenskodex, bei dem sich die Jungs voll für die Familienehre verantwortlich fühlen und diese oftmals durch Macho-Gehabe und auch durch körperlichen Druck durchsetzen wollen. In dem Projekt sollen sie lernen, ihre eigene Rolle kritisch zu hinterfragen.

Dass sich die Schüler ernsthaft mit ihrer Situation auseinandersetzen, liegt nicht zuletzt an der Glaubwürdigkeit der jungen Männer bei den Heroes. Mert studiert Architektur an einer Privatuniversität, aber er ist hier in der Nähe aufgewachsen. "Du weißt einfach, unter welchem Druck die Jungs hier stehen, und sie sehen an dir, dass man sich entscheiden kann", sagt er. "Die akzeptieren das, wenn wir vor ihnen stehen, weil wir so aussehen und so reden wie sie", fügt Rona hinzu.

Bei Rona haben die Heroes auch persönlich nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Der 22-Jährige studiert inzwischen Psychologie. "Die Arbeit mit den Jugendlichen macht mir Spaß, du brauchst viel Empathie dabei und trainierst die Fähigkeit, alles zu hinterfragen - darum geht es auch beim Studium." Dass er sich bei den Heroes engagiert, habe auch einen positiven Einfluss bei seiner Bewerbung auf einen Studienplatz gehabt, sagt er.

"Das ist nur gerecht", meint Mert. "Wir verbringen viel Zeit mit den Heroes, und dann schreibe ich das natürlich auch in meinen Lebenslauf rein." Bevor sie ihr Zertifikat als Hero bekamen, sind die beiden jeweils etwa ein Jahr lang ausgebildet worden, haben sich in die Rollenspieltechniken vertieft und ihre Schlagfertigkeit beim Diskutieren geübt. Für die Heroes gibt es ein- bis zweimal die Woche feste Treffen. Mit Fachleuten sprechen sie dort über Themen wie Gleichberechtigung, Frauenrechte oder die Schwulenbewegung.

Auszeichnungen für ein besonderes Projekt

Die Projektidee kommt aus Schweden, und auch das Berliner Projekt wird von der World Childhood Foundation der schwedischen Königin Silvia finanziert. Inzwischen hat es nicht nur eine Reihe von Auszeichnungen für die Heroes gegeben - es ist auch deutschlandweit gewachsen. In Städten wie München, Duisburg oder Augsburg gibt es inzwischen Heroes-Gruppen. "Am Anfang hat man uns gesagt, das wird nichts, und ihr kriegt keine Jungs", erinnert sich Gruppenleiter Yilmaz Atmaca. Das Gegenteil war der Fall.

Auch die Heroes erleben in ihren Familien eher Anerkennung für ihr Engagement. "Manche befürchten aber immer noch, dass es vielleicht darum gehen könnte, die Kultur der Eltern abzulehnen", beschreibt Mert. "Ich komme aus einer liberalen Familie, und die sind alle ganz stolz darauf, dass ich ein Hero bin", meint Rona.

Heiner Kiesel

© Deutsche Welle 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de