Letzte Hoffnung Demokratie

Lässt sich der westliche Demokratiebegriff ohne weiteres auf die Länder der arabischen Welt übertragen oder müsste er nicht auch den Besonderheiten der politischen Kultur in dieser Region Rechnung tragen? Antworten hierauf findet der libanesische Publizist Karam Hilo in seinem Essay.

Essay von Karam Hilo

Seit den 1980er Jahren erlebt die Welt immer wieder Zusammenbrüche diktatorischer Regime und mit ihnen einher geht eine geradezu obsessive Beschäftigung der arabischen Intellektuellen und Kultureliten mit der Frage der Demokratie.

Dies zeigt sich beispielsweise in zahlreichen Symposien und Konferenzen, die über dieses Thema gehalten werden sowie in der umfangreichen Literatur, die sich auf die demokratische Transformation der arabischen Länder und die Schwierigkeiten dabei spezialisiert hat. Die Massenaufstände in der arabischen Welt von 2010/11 sind zweifelsohne ein Ausdruck dieser intensiven Beschäftigung, allen Rückschlägen zum Trotz.

Bemerkenswert ist aber auch, dass die Anhänger des arabischen Modernisierungsprojekts zu dem Schluss kommen, dass die Demokratie als Staatsform der beste Weg zur Entwicklung arabischer Gesellschaften sei. Diese demokratische Orientierung unterscheidet die aktuelle Bewegung von ihren nationalistisch orientierten Vorgängern.

Doch auch dieser demokratie-orientierte Ansatz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach wie vor viele Konfliktlinien zwischen ihm und Schlüsselthemen wie Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und der "Einheit der arabischen Länder" verlaufen.

Weitere Konfliktlinien lassen sich zwischen dem universellen Anspruch der Demokratie, ihren grundlegenden Werten und Prinzipien wie Freiheit, Rationalität, Gleichheit einerseits, und den Besonderheiten der arabischen Kultur andererseits, finden.

In diesem ideologischen Kontext führt Demokratie nicht zwangsläufig zu Freiheit, sie fungiert lediglich als neutraler Mechanismus für den Machtübergang. Somit kann es passieren, dass die Macht von einer Diktatur in eine andere übergeht, wie wir es in vielen postrevolutionären arabischen Staaten beobachten konnten.

Geduldete Tyrannei

Demokratie bedeute, so Alain Touraine, nicht nur Mehrheitsentscheidungen, sondern in erster Linie die Achtung individueller Lebensentwürfe und Bestrebungen. Dem trugen die Bürokratien in den arabischen Umbruchstaaten nicht Rechnung, wodurch die gesellschaftlichen Gräben weiter vertieft wurden.

Tunesische Demonstranten protestieren gegen das Ben-Ali-Regime in Tunis; Foto: dpa/picture-alliance
Enttäuschte Revolutionäre: In vielen Ländern der Arabellion war der Frühling der Freiheit nur von kurzer Dauer und mündete in eine autoriäre Restauration. Nur in wenigen Staaaten, wie in Tunesien, glang der Übergang zu einem demokratischen Mehrparteiensystem.

Neben diesem Konflikt zwischen Demokratie und Freiheit ist auch das Verhältnis von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit schwierig, und wiegt unter Umständen noch schwerer: Denn es geht darum zu prüfen, ob Demokratie wirklich zu Chancengerechtigkeit führt. Und ob der Gleichheitsanspruch, den sie propagiert, eine gerechte Aufteilung der öffentlichen Güter mit sich bringt.

Die Kritik am arabischen Demokratiediskurs berührt auch den panarabischen, nationalistischen Diskurs. In letzterem herrscht die Idee vor, dass die Demokratisierung angesichts der Zersplitterung der arabischen Welt nicht umsetzbar sei, beziehungsweise dass sie erst in der Zeit nach der Vereinigung der arabischen Länder notwendig würde. Denn das hehre Ziel der Schaffung einer arabischen Einheit rechtfertige es, so der libanesische Historiker Nadim al-Bitar, Freiheiten einzuschränken und Tyrannei zu dulden.

Dennoch bleibt festzuhalten: Das Spannungsverhältnis zwischen den universellen Werten der Demokratie und der Eigenart der arabischen Kultur dominieren den zeitgenössischen arabischen Demokratiediskurs in besonderem Maße.

Demokratie – ein universeller Wert an sich?

In "Texte zum arabischen Modernisierungsprojekt" (Zentrum für Studien der arabischen Einheit/ Centre for Arab Unity Studies) aus dem Jahr 2016 reflektiert der panarabische Vordenker Ziad Hafez diese Spannungen: "Wer sagt, dass Demokratie ein universeller Wert an sich ist? Weshalb sollten wir die Bedingungen der Moderne westlicher Prägung akzeptieren? Weshalb sollen wir akzeptieren, dass die westlichen Werte und Prinzipien besser sind als die unseren?"

Hafez plädiert schließlich dafür, den Demokratiebegriff grundsätzlich zu hinterfragen und ein arabisches Regierungssystem zu entwerfen, welches den Realitäten und dem kulturellen Erbe der arabischen Länder Rechnung trägt. Zudem müsse ein arabisches Wertesystem geschaffen werden, das auf den Werten und Prinzipien des arabischen Kulturerbes beruhe, dem dann das westliche System untergeordnet sei.

Slum in Ramlet Bulaq, Kairo; Foto: Reuters
Neben dem Konflikt zwischen Demokratie und Freiheit ist auch das Verhältnis von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit schwierig, und wiegt unter Umständen noch schwerer: Denn es geht darum zu prüfen, ob Demokratie wirklich zu Chancengerechtigkeit führt. Und ob der Gleichheitsanspruch, den sie propagiert, eine gerechte Aufteilung der öffentlichen Güter mit sich bringt.

In einem Aufsatz der wichtigsten arabischen Fachzeitschrift "Die arabische Zukunft" vom Oktober 2016 schreibt Saeed al-Mallah, dass die Existenz einer globalen Kultur eine westliche Erfindung sei, die im Gegensatz zu den spezifischen Besonderheiten der Völker stehe. Die enge Bindung der Demokratie an das westliche Wertesystem müsse aufgehoben werden, denn Säkularismus, Rationalismus und Individualität seien nicht für alle Menschen gleichermaßen wertvoll.

Demokratie als Instrument zur Verhinderung von Monopolen

Seiner Ansicht nach müsse die Demokratie nicht zwangsläufig an den Liberalismus gebunden sein, sie könne vielmehr schlicht als Werkzeug zur Regelung von Machtübergängen genutzt werden, ohne dabei den Anspruch zu erheben, Gesellschaften verändern zu wollen. So werde sie zum Instrument der Machtverteilung, das Monopolbildung verhindern soll. Auf diese Art könne sich jedes Volk ein demokratisches Instrument ableiten, das sich nach seiner spezifischen Geschichte und kulturellen Tradition richtet.

Zweifelsohne werden mit solchen Schlussfolgerungen allerdings die Errungenschaften moderner Demokratien außen vor gelassen. Doch gerade diese machten erst den Übergang von Person zu Individuum und dann zum Bürger möglich, so der algerische Reformdenker Mohammed Arkoun. Einem Bürger, der durch einen sozialen und rechtlichen Vertrag mit dem modernen Staat verbunden ist. Man sollte auch nicht vergessen, dass es die Moderne war, welche die Sklaverei abgeschafft und die Staatsbürgerschaft etabliert hat.

So sehr wir auch versuchen, auf die wertvollen Errungenschaften unseres Kulturerbes aufzubauen, so ist es doch falsch anzunehmen, dass die modernen Ideen des demokratischen Verfassungsstaats in diesem kulturellen Erbe starken Rückhalt finden werden.

Angesichts all dieser Unklarheiten und Fragestellungen, die den aktuellen arabischen Demokratiediskurs so undurchsichtig gestalten, ist es meiner Meinung nach notwendig, alle Überlegungen zugunsten einer umfassenden Kritik zurückzustellen – einer tiefgreifenden Kritik, die bis zu den Wurzeln dringt und eine neue, bejahende Haltung zur Demokratie hervorbringt. Vielleich liegt darin ein Weg für die arabischen Gesellschaften, aus dem anhaltenden Teufelskreis der Gewalt auszubrechen.

Karam Hilo

© Qantara.de 2017

Aus dem Arabischen von Antonia Brouwers.

Karam Hilo ist ein bekannter libanesischer Schriftsteller und Publizist.