Offene Wunden

Landminen aus der Kolonialzeit fordern noch heute Opfer in Algerien. Seit einem halben Jahrhundert kämpfen Betroffene um Anerkennung als Kriegsversehrte, die Frankreich ihnen verwehrt. Von Susanne Kaiser

Von Susanne Kaiser

"Ein 14-jähriges Mädchen, das mit seinen Eltern Urlaub in Beni Ksila 200 km östlich von Algier machte, trat auf eine Landmine, als es im Obstgarten der Familie Feigen pflücken wollte. Das Kind ist inzwischen außer Lebensgefahr, hat jedoch ein Bein verloren". In algerischen Tageszeitungen sind solche traurigen Meldungen, wie hier in El Watan vom 23. August 2007, seit über 50 Jahren recht geläufig.

Algerien ist seit dem Zweiten Weltkrieg ein vermintes Land. Die Landminen und ihre Opfer sind zum größten Teil das Erbe der Kolonialzeit, genauer des Algerienkriegs, als die scheidende Macht Frankreich zwischen 1956 und 1962 die Grenzgebiete zu den verlorenen Protektoraten Marokko und Tunesien massiv verminte, um ihre letzte Kolonie im Maghreb nach innen abzuschirmen.

Aber auch im algerischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre kamen Minen zum Einsatz. Annähernd drei Millionen davon gab es insgesamt noch zu Beginn des Jahrtausends, wie etwa der "Landmine Monitor Report" von 2013 zeigt, der unter anderem von Human Rights Watch und Handicap International herausgegeben wird.

Ursprünglich hatte Algerien mit rund elf Millionen Landminen zu kämpfen. Über 4.000 Menschen, so die offizielle Zahl, haben seither durch einen fatalen Schritt ihre Gliedmaßen verloren, sind erblindet, können nicht mehr hören oder sind schwer traumatisiert. Opferverbände gehen sogar von weit mehr Geschädigten aus, nämlich bis zu 80.000 Personen. Außerdem würden die Toten nicht in offiziellen Statistiken auftauchen, deren Zahl auf nochmal 40.000 geschätzt wird.

Wie eine Nadel im Heuhaufen

Alle zwei Stunden tritt irgendwo auf der Welt ein Mensch auf eine Landmine, in den meisten Fällen sind es Zivilisten, die Hälfte von ihnen Kinder. Das Tragische in Algerien ist, dass viele der über 4.000 Unfälle hätten verhindert werden können, wenn Frankreich die genauen Positionen der Minengebiete früher – oder überhaupt – preisgegeben hätte.

Menschen an einem der marokkanisch-algerischen Grenzabschnitte; Foto: DW
Vermintes Gelände: Während des Algerienkrieges wurden die algerischen Grenzgebiete zu Tunesien und Marokko durch eine jeweils rund 30 Quadratkilometer große Pufferzone unpassierbar gemacht: Stacheldraht, Elektrozäune und Landminen erstreckten sich in je zwei Linien im Osten und im Westen von Nord nach Süd über jeweils 750 Kilometer.

Nach der Unabhängigkeit war Algerien sich selbst überlassen und musste die schwierige Aufgabe der Minenräumung bewältigen – ohne entsprechendes technisches Equipment, Knowhow oder hierfür ausgebildete Spezialisten. Die einzige Information, die algerischen Räumungsteams zur Verfügung stand, war die Verminung, die sich entlang der sogenannten Morice- und Challe-Linie erstreckte. Im flächenmäßig größten Land des afrikanischen Kontinents bedeutete dies sprichwörtlich die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Die Linie Morice und Challe verdankt ihren Namen ihren Konstrukteuren, dem ehemaligen französischen Verteidigungsminister André Morice sowie dem General und Oberbefehlshaber Maurice Challe. Die beiden militärischen Strategen sorgten dafür, dass die Grenzgebiete zu Tunesien und zu Marokko durch eine jeweils rund 30 Quadratkilometer große Pufferzone unpassierbar wurden. Stacheldraht, Elektrozäune, Landminen und Wachen erstreckten sich in je zwei Linien im Osten und im Westen von Nord nach Süd über jeweils 750 Kilometer.

Dies entspricht zusammengenommen in etwa der Länge der DDR-Grenze zur Bundesrepublik mit knapp 1.400 Kilometern, allerdings war diese nur mit 1,2 Millionen Minen gesichert – in Algerien war die Minendichte also fast zehnmal so hoch. Auf diese Weise wollten die Franzosen verhindern, dass im Ausland ausgebildete Widerstandkämpfer der nationalen Befreiungsfront FLN während des algerischen Unabhängigkeitskriegs die Grenzen überquerten. 

Die Sowjets liefern das Knowhow beim Minenräumen

Symbolbild Entfernung und Vernichtung von Anti-Personen-Minen; Foto: dpa/picture-alliance
Im Stich gelassen: Minen-Opfer und ihre Angehörigen kämpfen bis heute darum, anerkannt und entschädigt zu werden – beides verweigert Frankreich bis heute und bleibt damit seiner Linie treu, die während der Kolonialzeit begangenen Gräueltaten zu verleugnen.

Die mühevolle Sisyphusarbeit, die Minen zu beseitigen, erledigten nach der Unabhängigkeit zwei Spezialeinheiten, die mit Hilfe der damaligen Sowjetunion ausgebildet werden konnten. Über einen Zeitraum von 25 Jahren entschärften die beiden Räumkommandos etwa acht Millionen Minen. Wahrscheinlich wäre Algerien heute minenfrei, wenn ihre Arbeit nicht durch das "Schwarze Jahrzehnt" unterbrochen worden wäre, wie der algerische Bürgerkrieg der 1990er Jahre zwischen Islamisten und Regierungstruppen auch genannt wird.

Die Räumungsarbeiten wurden erst im Jahr 2004 wieder aufgenommen, nachdem Algerien Ende 2001 die Ottawa-Konvention für ein Verbot von Anti-Personen-Minen ratifiziert und sich so zur Entminung verpflichtet hatte. Bis 2017 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein. Obwohl auch Frankreich zu den 162 Ländern zählt, die bis heute die Ottawa-Konvention unterzeichnet haben, gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Algerien zäh.

Frankreichs selektive Vergangenheitsbewältigung

Erst 2007 konnte sich die ehemalige Kolonialmacht dazu durchringen, Algerien einen Lageplan der Anti-Personen-Minen auszuhändigen. Leider habe dieser kaum neue Informationen enthalten, entrüsteten sich damals ranghohe militärische Berater. Außerdem hätten sich nach einer Zeit von fast einem halben Jahrhundert die Positionen der Landminen durch Erosion und Klima längst verändert, auch deshalb seien die Dokumente unbrauchbar.

Für Frankreich kommt die Mithilfe einem Schuldeingeständnis gleich und mit der Aufarbeitung seiner kolonialen Vergangenheit tut sich das Land bekanntlich schwer. Der Algerienkrieg wird aus diesem Grund auch als "Krieg ohne Namen" bezeichnet, benannt nach einem vierstündigen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1992 ("La guerre sans nom", von Bertrand Tavernier und Patrick Rotman).

Im selben Jahr hat auch der berühmte Historiker Benjamin Stora die Verdrängung des Algerienkriegs im französischen Kollektivgedächtnis in seinem Buch "Der Wundbrand und das Vergessen" ("La gangrène et l'oubli") thematisiert. Die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit findet erstmals im Rahmen der intellektuellen Debatte statt.

Verminte Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich

Minen-Opfer und ihre Angehörigen kämpfen bis heute darum, anerkannt und entschädigt zu werden – beides verweigert Frankreich bis heute und bleibt damit seiner Linie treu, die während der Kolonialzeit begangenen Gräueltaten zu verleugnen. Daher unterstützen regionale Verbände im Auftrag des Verteidigungsministeriums zusammen mit internationalen NGOs wie Handicap International die algerischen Minenopfer. Aufgrund ihrer Behinderungen wird ihnen beispielsweise eine ihren Bedürfnissen entsprechende Schul- und Ausbildung zuteil.

Die Vergangenheit lastet noch immer auf den diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien. Die algerische Tageszeitung El Watan titelte kürzlich: "L'héritage colonial continue de miner l'Algérie" – "Das koloniale Erbe verletzt Algerien bis heute".

Susanne Kaiser

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