Zweifel gelten als Verrat

Ägyptens Revolutionäre von 2011? Verstummt oder verstört. Institutionen der Mäßigung? Liegen nun auf Linie des Militärs. Nach sechs Tagen mit 1000 Toten zeigt sich: Der Sicherheitsapparat ist zurück im Zentrum der Macht, die Politik ist fast komplett kollabiert. Aus Kairo von Sonja Zekri

Von Sonja Zekri

Er ist hundemüde, er hat seit zwei Tagen nicht geschlafen. Und obwohl das Verhältnis der westlichen Presse zur ägyptischen Polizei nie gut und derzeit sehr angespannt ist - um es freundlich auszudrücken -, zeigt der Beamte, nennen wir ihn Ahmed, die Schäden: Einschusslöcher im Zimmer des Kommandeurs der Polizeistation, einem Furnier-Paradies mit Plastikblumen und einer Beretta-Pistole als Feuerzeug.

Aber er zeigt auch die zerschossenen Scheiben, die Brücke, von der die Islamisten geschossen haben, das Minarett der Moschee am Ramses-Platz, wo sich Bewaffnete verschanzt haben. Nach fast 24 Stunden ist die Moschee ein Gefängnis, das Staats-TV zeigt Reihen von gefangenen Anhängern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi. 173 Menschen starben hier bei Kämpfen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften.

Der Vorplatz der Moschee ist verwüstet, ein Aufmarschplatz für Panzer und eine Masse, die die Islamisten in der Moschee am liebsten zerreißen würde, Zäune sind herausgebrochen, Bretterbuden fliegender Händler zerschlagen. Es ist eine Bahnhofsgegend, ziemlich heruntergekommen. Am Freitag hatten hier Bewaffnete vom Minarett geschossen. Und die Polizeistation unter der Brücke angegriffen.

Die Revolution, um alle Revolutionen zu beenden

Wütende und entsetzende Reaktionen auf die Absetzung Mursis: "Es war die Revolution, um alle Revolutionen zu beenden", schreibt Sonja Zekri.

In einer Pfütze vor dem Gebäude schwimmt eine Blutlache, drinnen wird ein Gefangener die Treppe hinaufgeführt. "Ich möchte bitte den General sprechen, ich möchte bitte den General sprechen", wiederholt er wie einen Abwehrzauber. Als ein Beamter ihm einen Tritt gibt, werden die Journalisten wegkomplimentiert. In einem der hinteren Zimmer sitzen noch weitere Gefangene. "Sie werden verhört", sagt er. "Es sind Arbeitslose darunter, Kinder, die die Muslimbrüder bezahlt haben, damit sie für sie auf die Straße gehen." Auch Ausländer sollen unter den Demonstranten sein, Syrer, Palästinenser, Pakistaner, nur gerade nicht in dieser Station.

Aber dennoch, obwohl Polizeistationen im ganzen Land angezündet werden, obwohl in den vergangenen Tagen mehr als 40 Beamte - bei vielen im Land verhasst, aber besonders bei den Islamisten - gestorben sind, sieht Ahmed das Gute: "Die Menschen unterstützen uns. Wir sind wieder beliebt."

Und dann sagt er nach etwas Nachdenken, aber deutlich zufrieden, etwas, was wie ein Schlüsselsatz für die furchtbaren Ereignisse in Kairo klingt, zumindest für die Überzeugungen im Sicherheitsapparat: "Endlich hat das Volk eingesehen, dass die Ereignisse vom 25. Januar 2011 ein Betrug waren." Die vermeintliche "Revolution", die gerade die Zerschlagung des Polizeistaats gefordert hatte, war, so sagt er, von den Muslimbrüdern angezettelt, um deren Führer aus dem Gefängnis zu holen. "Und so etwas darf nie mehr passieren."

Die Entmachtung Mursis nach den Massenprotesten am 30. Juni, so sieht es nicht nur er, sondern auch der gesamte Sicherheitsapparat, waren nicht die "Korrektur" oder eine "zweite Welle" der Revolution auf dem Weg zur Demokratie. Es war die Revolution, um alle Revolutionen zu beenden.

Das wirkt aus der Nähe so Orwell-mäßig wie aus der Ferne, besonders beim Blick in die Medien. Die eigentlich unabhängige Zeitung Sot al-Umma (Stimme der Nation) veröffentlichte das Bild einer Menschenmenge, in der alle den Kopf von Armeechef Abdel Fattah al-Sisi haben unter dem Titel: "Ganz Ägypten ist al-Sisi." Die Revolutionäre von 2011 sind verstummt oder verstört nach fünf Tagen mit 1000 Toten und verheerten Stadtvierteln.

 Politischer Kollaps

Die geistlichen Führer stellen das Vorgehen der Armee und der Polizei mit keinem Wort infrage: Nachdem Dutzende Kirchen in Flammen aufgegangen waren, rückte Koptenpapst Tawadros eher noch enger an die Armee heran und verbat sich jede Einmischung von außen, was ihm bei manchen Ägyptern das Lob eines "echten Patrioten" eintrug.

Die Azhar-Universität, der höchste Sitz sunnitischer Gelehrsamkeit, war lange ein Ort der Mäßigung. Nun aber folgt sie dem Militär und weist die Schuld für die Eskalation einzig den Islamisten zu. Vor Kurzem soll sie die Anhänger der Muslimbrüder sogar zu Abtrünnigen des Islam erklärt haben - was dem innerislamischen Konflikt eine neue Wendung geben würde.

Fast gespenstisch aber ist der vollständige Kollaps der Politik. Die Unterschriftenaktion "Tamarod" (Rebell), die einst Mursis Sturz mit ermöglicht hatte, ist im isolationistischen Chor eine der lautesten Stimmen. Sie hat sich einer Kampagne angeschlossen, die die Ablehnung der US-Militärhilfe fordert, und möchte jetzt Unterschriften für die Aufhebung des Friedensvertrages mit Israel sammeln.

"Im Angesicht des Terrorismus"

Der Populist und Nasserist Hamdin Sabahi ist nach Monaten als Armee-Kritiker nun einer der glühendsten Unterstützer. Womöglich hat er erneut das höchste Staatsamt im Auge.

Der Populist und Nasserist Hamdin Sabahi ist nach Monaten als Armee-Kritiker nun einer der glühendsten Unterstützer. Nicht genug, dass er den saudischen König und die Emiratis für ihren Beistand und versprochene Milliardenhilfe für Ägypten im Angesicht westlicher Kritik lobte, rief er jüngst auch die Arabische Liga zu einer Krisensitzung auf, um Ägypten und sein Volk "im Angesicht des Terrorismus" zu unterstützen.

Beobachter spekulierten, dass Sabahi, der in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2012 ausschied, woraufhin Mursi in der zweiten Runde gewann, erneut das höchste Staatsamt im Auge hat. Dabei müsste er allerdings möglicherweise gegen Sisi antreten, der eine Kandidatur nie ganz ausgeschlossen hat und in der derzeitigen Stimmung mit überwältigender Mehrheit gewählt werden würde.

Und die Übergangsregierung dürfte bald ihre letzten Liberalen verlieren wie Vizepremier Siad Bahaa el-Din, der in einer Dringlichkeitssitzung des Kabinetts das Ende des Ausnahmezustandes und die Achtung der Menschenrechte vorschlagen wollte, so die BBC. Übergangspremier Hasem al-Beblawi hingegen hat vorgeschlagen, die Muslimbrüder für illegal zu erklären, so wie jahrzehntelang unter Mubarak.

Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei hatte Berichten zufolge Ägypten Richtung Wien verlassen. Nach dem Rücktritt als Vizepräsident hatten einige gefordert, ihn vor Gericht zu stellen, darauf wollte er wohl nicht warten.

Es ist die Stunde klarer Loyalitäten. Zweifel gelten als Verrat. Es gibt keine Parteien mehr, könnte man in Anlehnung an ein berüchtigtes deutsches Zitat sagen, nur noch Ägypter.

Sonja Zekri

© Süddeutsche Zeitung 2013

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de