Postfaktische Opfer

In der Obama-Ära hat das Töten ein neues Merkmal bekommen, nennen wir es die "Verdrohnisierung". Es gibt keinen Kombattantenstatus, kein erklärtes Kriegsziel, keine Verhandlungsoption, und es werden keine Gefangenen gemacht. Es wird schlicht getötet, und wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, stirbt mit. Von Charlotte Wiedemann

Von Charlotte Wiedemann

Man kann es als Zeichen der fortschreitenden Entpolitisierung der Berichterstattung werten, dass die Ära Obama nun vor allem nach der Eleganz des Präsidenten bewertet wird. Ach, wie lässig pflegte der Mann die Gangway hinunter zu laufen!

Aber da ist noch etwas Anderes. Und wir wurden daran erinnert, als dieser Tage um vier Uhr morgens in der afghanischen Provinz Kundus Dutzende Zivilisten durch US-Kampfflugzeuge ausgelöscht wurden. Die Dorfbewohner starben nicht etwa in einem Krieg, sondern durch eine sogenannte Ausbildungsmission, die auf den Namen Resolute Support hört.

Die Frage, welche Ausbildungsinhalte durch ein Massaker vermittelt werden, hat nach Lage der Dinge rein rhetorischen Charakter. Auf einem Protestmarsch in Kundus forderten Angehörige der Opfer eine unabhängige Untersuchung; dazu wird es nicht kommen.

Das Geschehen im Morgengrauen hat für uns so wenig Spektakuläres, weil ihm eine Kette ähnlicher Ereignisse vorausgegangen ist. Ein solcher Satz lässt sich kaum niederschreiben, ohne über ihn zu erschrecken. Auch um unserer selbst willen sollten wir deshalb am Ende einer US-Präsidentschaft, die mit dem Friedensnobelpreis begann, einen Moment innehalten und eine überaus schlichte Frage zu beantworten suchen: Wie halten es die USA, die Nato, der Westen mit dem Töten? Und welche Rechte hatten jene, die getötet wurden?

Verzehnfachung der Drohnen-Einsätze unter Obama

Die Welt, wie sie in unseren Nachrichten abgebildet wird, ist gegenwärtig voll mit Verbrechen, bei denen die Täter nicht von unserer Seite sind: Putin, Aleppo… Über die eigene Seite zu sprechen, ist stets weniger en vogue, und zugleich merken wir an der Art öffentlichen Sprechens genau, welche Seite eben die unsrige ist. Es sei deshalb vorausgeschickt: Anders als Kneipenschulden, die sich in dem Maße relativieren, in dem sie zur Gewohnheit von vielen werden, steht jede Verletzung von Menschenrechten für sich. Massaker lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen.

US-Präsident Barack Obama bei seiner Ankunft am Flughafen Schiphol, Niederlande; Foto: Reuters
Ausweitung der Kampfzone: US-Präsident Obama, dem Kampfhandlungen alter Prägung etwa auf Schlachtfeldern ein Gräuel sind, wird für die Politik der Drohnenangriffe seit Jahren kritisiert, unter anderem wegen der hohen Zahl ziviler Opfer und oft unklarer Rechtslage. Die Angriffe belasten auch die Beziehungen zu anderen Ländern wie Pakistan und Afghanistan. Erst im vergangenen Juni hatte Obama seinen Truppen in Afghanistan neue Einsatzbefugnisse gegeben, darunter eine weiter gefasste Erlaubnis, Taliban aus der Luft anzugreifen. Derzeit fliegen US-Drohnen und Jets fast täglich Angriffe in Afghanistan.

In der Obama-Ära hat das Töten ein neues Merkmal bekommen, nennen wir es die "Verdrohnisierung". Darunter ist zunächst, in einem engeren Sinne des Begriffs, das Werkzeug des Tötens zu verstehen: Mit Obama hat sich die Zahl der Drohnen-Einsätze im Vergleich zur Bush-Administration verzehnfacht. Allwöchentlich am Dienstag hat der Friedensnobelpreisträger persönlich die Liste für außergerichtliche Hinrichtungen abgezeichnet. Neben den zur "gezielten Tötung" Ausersehenen kamen dabei viele andere ums Leben, gut informierte Kritiker sprechen von einer Rate von 28 zu 1. Das heißt: 28 Menschen waren jeweils in einem willkürlich komponierten Geleitzug des Sterbens.  Und da die US-Airbase Ramstein eine Relais-Station im Drohnenkrieg ist, durchqueren die Todessignale unsere schöne Pfalz.

Unter Verdrohnisierung sollten wir gleichfalls die Rahmenhandlung des Tötens verstehen, auch wenn wie in Kundus andere Werkzeuge zum Einsatz kommen. Wer derart tötet, geht keine Gefahr für sich selbst ein; wie im Drohnenkrieg wird weißes Soldatenleben geschont. Es gibt keinen Kombattantenstatus, kein erklärtes Kriegsziel, keine Verhandlungsoption, und es werden keine Gefangenen gemacht. Es wird schlicht getötet, und wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, stirbt mit.Dafür ist Kundus in mehrfacher Hinsicht eine Metapher – auch unser Kundus, das deutsche, bei dem im September 2009 an die hundert Zivilisten auf Befehl des Oberst Klein starben. Denn der Bundesgerichtshof hat dazu soeben entschieden, dass den Angehörigen der Opfer kein "Schadensersatz" zusteht.

Keine Wiedergutmachung für zivile Opfer

Wer durch einen Auslandseinsatz der Bundeswehr seine Familie verliert, hat kein Recht auf Wiedergutmachung. Nach demselben Grundsatz hat die Bundesregierung stets Entschädigungsforderungen von Opfern der Kriegsverbrechen der NS-Zeit abgewehrt: Der einzelne Mensch hat kein Recht, nur sein Staat könnte etwas von unserem Staat fordern.

Wieso aber heißt es dann Menschenrecht?

Bisher konnten zivile Opfer noch versuchen, eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention geltend zu machen. Die britische Regierung will diesen Weg verschließen, indem für britische Soldaten im Kriegseinsatz die Konvention schlicht nicht mehr gelten soll. Der "War on Terror" in Irak und Afghanistan hatte 3.000 Eingaben von Geschädigten nach sich gezogen: angesichts von massenhaft begangenem Unrecht in diesen Ländern keine große Zahl, doch nach den Worten von Ex-Premier David Cameron eine "Hexenjagd" auf britische Soldaten.

Von Bundeswehr bombardierter Tanklastzug in Kundus im Jahr 2009; Foto: AFP/Getty Images
Bilanz des Schreckens: Im September 2009 bombardieren von der Bundeswehr angeforderte Nato-Flugzeuge zwei von Taliban gekaperte Tanklaster. Rund 100 Menschen starben, darunter zahlreiche Zivilisten.

Der Begriff vom asymmetrischen Krieg wurde einmal geprägt für Konflikte, bei denen wendige Guerilla-Gruppen und Milizen auf konventionelle Armeen treffen. Heute gibt es eine andere Asymmetrie: Zwischen Zivilisten und einer verdrohnten Kriegsführung.  

Einer Mode folgend könnten wir dies als typische Konstellation des postfaktischen Zeitalters bezeichnen. Wir sehen aus der Luft für einen Moment noch die Angehörigen der Opfer, die ihre erbärmlichen Forderungen in den Sandsturm brüllen, aber schon wenn die Bilder toter Babys im Netz auftauchen, wissen wir nicht, ob es Fake ist. Zu viele tote Kinder heutzutage im Netz. Postfaktische Opfer.

Im Jemen werden unterschiedslos Schulen, Märkte, Krankenhäuser, Wohnhäuser bombardiert. Saudische Kriegsverbrechen mit amerikanischer und britischer Hilfe, denn deren Militärberater sind in die Kriegsführung nach saudischen Angaben direkt involviert. Die "New York Times" rang sich dazu durch, die Vereinigten Staaten wenigstens in der Kommentarspalte als "Komplizen des Abschlachtens" zu bezeichnen, während hierzulande feuilletonistisch von einem vergessenen Krieg gesprochen wird.

Deutschland hat in diesen Krieg allein in der ersten Hälfte dieses Jahres für eine halbe Milliarde Euro Rüstungsgut geliefert; Großbritannien verdient an den Kriegsverbrechen noch weitaus mehr. Anschließend schickt Europa einen Bruchteil der Rüstungsprofite als humanitäre Hilfe zurück, und eine im postfaktischen Irrlichtern begriffene Bevölkerung fragt sich besorgt, ob wir uns soviel westliche Großzügigkeit leisten können.

Die Bush-Ära war gekennzeichnet von offener Intervention und schrillen Tönen; wer wollte, konnte sehen, hören und begreifen, was vor sich ging. Die Ära Obama hat dem Illusionären Vorschub geleistet.

Was kommt nun?

Charlotte Wiedemann

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