Im Belagerungszustand

Hunderte Tote und zerstörte Stadtviertel. So die Bilanz des seit Dezember andauernden Militäreinsatzes in der Südosttürkei. Seit knapp zwei Monaten hat die türkische Armee im kurdisch geprägten Südosten des Landes eine Ausgangsperre verhängt. Aus Diyarbakir berichtet Tom Stevenson.

Von Tom Stevenson

Erst vor einer Woche flüchteten abermals Tausende Menschen aus Sur, dem Altstadtkern der Kurdenmetropole Diyarbakir. Sie klammerten sich an ihre Koffer und die wenigen Habseligkeiten, die sie noch retten konnten. Auf dem Weg aus der Altstadt mussten sie vorbei an türkischen Soldaten, die auf der Jagd nach kurdischen Kämpfern vorrücken.

Seit dem 15. Dezember gilt eine Ausgangssperre für weite Teile von Sur. Auch in anderen von Kurden bewohnten Städten im Südosten der Türkei können die Menschen kaum noch vor die Tür. Wer noch nicht aus Sur geflohen ist, hat häufig kein Wasser und keinen Strom mehr. Städtische Beamte und Bürgerrechtler erzählen von Leichen, die tagelang auf den Straßen herumliegen.

Bereits Anfang letzter Woche hatte die türkische Regierung verkündet, die Gebiete, für die die Ausgangssperre gilt, zu erweitern."Es ist traurig, dass die Regierung diesen Konflikt noch weiter anheizt", meint Raci Bilici, Chef des Ablegers der Menschenrechtsorganisation IHD in Diyarbakir. "Vor allem in Sur gibt es viele Kurden, die eine Autonomie fordern, weil sie denken, sie können dem Staat mittlerweile einfach nicht mehr trauen", so Bilci.

Auf Konfrontationskurs

Der jüngste IHD-Bericht dokumentiert insgesamt 198 Zivilisten, die seit Beginn der Ausgangssperren im Südosten der Türkei getötet worden sind. Darunter sind 43 Frauen und 33 Kinder. 40 der Getöteten starben im Stadtteil Sur. Das Zentralkommando der türkischen Armee behauptet, dass seit dem 15. Dezember bereits mehr als 500 "PKK-Terroristen" in Diyarbakir und in Sirnak getötet worden seien. "Die einzige Chance ist eine Waffenruhe", sagt Bilici.

Türkisches Militär im Einsatz gegen die PKK in Cizre; Foto: picture-alliance/abaca
Die türkische Armee geht seit Dezember in einer Großoffensive gegen die PKK im Südosten des Landes vor. In den Städten liefern sich Sicherheitskräfte Gefechte mit der PKK-Jugendorganisation YDG-H. Die Kämpfe konzentrierten sich vor allem auf die Städte Cizre, Silopi und auf das Viertel Sur in Diyarbakir. In den Orten gelten seit Dezember Ausgangssperren.

Mitte Juli vergangenen Jahres bekam die Kurdenpartei HDP zum ersten Mal in ihrer Geschichte genügend Stimmen für den Einzug ins Parlament. Seitdem laufen Militäroperationen. So verhafteten Sicherheitskräfte direkt nach den Wahlen hunderte Aktivisten der HDP im Südosten der Türkei, wo die Partei ihre Mehrheiten holte. Einwohner gründeten daraufhin bewaffnete Gruppen, die unter dem Namen YDG-H bekannt sind. Sie errichteten Barrikaden, bauten Gräben und erklärten einige Gebiete für autonom und tabu für türkische Sicherheitskräfte.

Eine Stadt unter Beschuss

Nach Angaben der Stadtverwaltung von Diyarbakir haben mittlerweile rund 20.000 Menschen die historische Altstadt Sur verlassen. Harun Ercan, ein Vertreter der Stadtverwaltung, zeigt einen Ordner mit den Namen, Telefonnummern und den Adressen. "Einige suchen Zuflucht bei Verwandten, andere mieten sich übergangsweise eine Unterkunft. Aber die Armee gibt den Menschen nicht viel Zeit, bevor sie ihnen befiehlt, ihre Häuser zu verlassen." Manchmal hätten sie nicht einmal genügend Geld bei sich.

"Die Regierung hat Angst, dass die kurdische Befreiungsbewegung zu stark werden könnte", sagt Ercan. Das wolle sie verhindern. Der Stadtvertreter berichtet auch von willkürlichem Beschuss auf ganz normale Wohneinheiten. "Es ist kein Zufall, dass die Militäroperationen dort stattfinden, wo die HDP besonders viele Stimmen bekommen hat." Die Botschaft sei klar: "Du willst Autonomie? Dann zerstören wir dein Haus."

Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoğlu sagte im Fernsehen, die Angriffe richteten sich lediglich gegen "Terroristen", die aus den kleinen Dörfern in die Städte gegangen seien. Mit der nun beschlossenen Ausweitung der Ausgangssperre solle die öffentliche Ordnung wieder hergestellt werden, heißt es in einer offiziellen Stellungnahme der Provinzregierung. Ein Missbrauch der Ausgangsperre sei nicht dokumentiert. Doch mit dieser Darstellung stimmen nur wenige in Diyarbakir überein.

Zerstörungen durch den Militäreinsatz in der Kurdenmetropole Diyarbakir; Foto: Murat Bayram
"Du willst Autonomie? Dann zerstören wir dein Haus!": Seit Beginn der Ausgangssperren in Cizre, Silopi und dem Viertel Sur der Kurdenmetropole Diyarbakir sind seit Dezember nach Angaben der HDP mindestens 117 Zivilisten ums Leben gekommen. Die Türkei geht seit Wochen in einer Großoffensive gegen die PKK in der Südosttürkei vor. Ein mehr als zwei Jahre andauernder Waffenstillstand zwischen Regierung und PKK scheiterte im Juli. Nach Angaben der "International Crisis Group" wurden in dem Konflikt seit Juli mindestens 243 Sicherheitskräfte getötet. Die PKK habe zudem 257 getötete Kämpfer bestätigt.

Neşet Girasun ist Rechtsanwalt bei der "Diyarbakir Bar Association" und ein Arbeitskollege von Tahir Elçi, einem bekannten kurdischen Menschenrechtsanwalt, der im letzten November in Sur getötet wurde. Im Auftrag vertriebener Familien arbeitet Girasun seit zwei Monaten an einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR). Damit will er erwirken, dass die Ausgangsperren im Südosten der Türkei für illegal erklärt werden. Die Klageschrift hatte er zuvor bereits bei türkischen Gerichten eingereicht, die sie jedoch binnen weniger Stunden abwiesen. Nun geht es in die nächste Instanz.

Wo ist Europa?

Doch bisher sind Girasuns Bemühungen ergebnislos. Der ECHR hat zwar den individuellen Missbrauch der Ausgangsperren verurteilt, den Zustand als solches aber nicht für illegal erklärt. Man hoffe sehr auf Europa, sagt Girasun in seinem Büro in Diyarbakir. "Aber Europa unterstützt die türkische Regierung und hat kein Interesse an den Menschen im Südosten."

Die meisten Menschen in Diyarbakir glauben, dass Europa seiner Verantwortung nicht nachkommt. Entweder weil die EU schlichtweg ignoriere, was sich im Südosten der Türkei abspiele. Oder weil Europa aktiv die türkische Regierung unterstütze und auch über die Menschenrechtsverletzungen hinwegsehe, weil die EU das Land als Partner für die Lösung der Flüchtlingsfrage dringend brauche.

Reha Ruhavioğlu ist Mitglied der religiösen Menschenrechtsgruppe Mazlumder. Seiner Meinung nach verhält sich die EU in dieser Frage scheinheilig. "Wo ist der Druck Europas auf die Türkei? Hier sterben viele Menschen, aber es macht leider den Eindruck, dass sich die EU nur um die Rechte von Europäern kümmert", so Ruhavioğlu.

Tom Stevenson

© Deutsche Welle 2016