Dem Orient verfallen

Mathias Énard hat einen grandiosen Roman über die Faszination Europas mit dem Orient geschrieben. In Frankreich mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet ist das vielschichtige, verblüffende Buch die Geschichte einer großen unerfüllten Liebe, aber vor allem ein Plädoyer für den kulturellen Austausch. Ulrich von Schwerin hat es gelesen.

Von Ulrich von Schwerin

In einer der schönsten Passagen dieses faszinierenden, verwirrend vielschichtigen Romans erinnert sich Franz Ritter, Spezialist für den Einfluss der orientalischen Musik auf die europäische Klassik, der von Erinnerungen und einer ungenannten Krankheit geplagt nachts schlaflos durch seine Wiener Wohnung streift, an einen Ausflug während seiner Studienjahre in Damaskus nach Palmyra, damals noch eine friedliche Oase in der syrischen Wüste.

Da lagert der Erzähler nachts um ein Lagerfeuer vor der Zitadelle über den Ruinen der antiken römischen Stadt mit der geliebten, doch ewig unerreichbaren Sarah, einem halbverrückten deutschen Archäologen und einem französischen Historiker, der, um den Freunden die eisigen Stunden bis zum Sonnenaufgang zu vertreiben, ihnen von der männermordenden französischen Abenteurerin Marga d'Andurain erzählt, die in Palmyra das Hotel Zénobie betrieb.

Benannt nach der antiken Königin bot das Hotel einen tollen Blick auf den Baal-Tempel, der heute von den Dschihadisten gesprengt worden ist. Doch Andurain langweilte sich in Palmyra und fasste in den 1930er Jahren den Plan, nach Mekka zu reisen, wozu sie eine Scheinehe mit einem Beduinen einging, der jedoch, kaum waren sie in der Hafenstadt Dschidda eingetroffen, vergiftet wurde, woraufhin Andurain nur knapp der Todesstrafe entging...

Der Faszination des Orients verfallen

[embed:render:embedded:node:20061]Énards Roman ist eine unergründliche Schatztruhe derartiger Geschichten über europäische Abenteurer, Archäologen und Forschungsreisende wie Annemarie Schwarzenbach oder Gertrude Bell, die der Faszination des Orients verfielen – einer Faszination, die, so zeigt es Énard, in den vergangenen Jahrhunderten zu einem reichen kulturellen Austausch geführt hat, der sich in der europäischen Literatur, Kunst und nicht zuletzt der Musik niedergeschlagen hat.

So wie Goethe, der seine Begegnung mit der Literatur des Orient in seinem West-östlichen Diwan verarbeitete, ließen sich auch zahlreiche andere europäische Dichter, Komponisten und Maler vom kulturellen Erbe der Türkei, der Levante und Arabiens inspirieren, übernahmen Geschichten, Klänge und Motive, adaptierten und integrierten sie, woraufhin andere Künstler sie aufnahmen, ohne selbst die Länder und ihre Kulturen zu kennen.

Immer wieder lässt Énard seinen Erzähler Franz Ritter von den Einflüssen der orientalischen Rhythmen und Melodien auf die Werke von Liszt, Berlioz, Mozart oder Beethoven erzählen – Einflüsse, die heute wohl nur Kennern noch bekannt sind. Diesem Orient, der heute so vielen im Westen als Inbegriff des Anderen erscheint, so zeigt es Énard, verdankt Europa einige seiner schönsten Werke, die heute als Inbegriff der europäischen Kultur gelten.

Naher, fremder Orient

Mit seinem Roman verdeutlicht Énard, wie nah der Orient den Europäern ist, doch auch wie fremd er ihnen geblieben ist – ein Ort, der zahllose europäische Abenteurer, Künstler und Genies fasziniert, inspiriert und angezogen hat, doch der sich zugleich ihrem Zugriff entzog und Sinnbild des Anderen blieb, ein Gegenstand für Sehnsüchte und Projektionen, in denen sich oft in erster Linie die Europäer selbst widerspiegelten.

Buchcover Mathias Énard: "Kompass" im Hanser-Verlag Berlin
Énards Roman ist eine unergründliche Schatztruhe über europäische Abenteurer, Archäologen und Forschungsreisende wie Annemarie Schwarzenbach oder Gertrude Bell, die der Faszination des Orients verfielen – einer Faszination, die, so zeigt es Énard, in den vergangenen Jahrhunderten zu einem reichen kulturellen Austausch geführt hat, der sich in der europäischen Literatur, Kunst und nicht zuletzt der Musik niedergeschlagen hat.

Mit diesem Thema hat Mathias Énard in Frankreich einen Nerv getroffen. Das Verhältnis des Westens zu den Ländern der islamischen Welt beschäftigt die Franzosen seit dem islamistischen Anschlag auf die Satirezeitung "Charlie Hebdo" im Januar 2015 wie selten zuvor.

Dies zeigte sich auch beim "Prix Goncourt", Frankreichs wichtigsten Literaturpreis, zu dem im vergangenen Herbst drei Bücher nominiert waren, die sich mit Europas Blick auf den Orient beschäftigten.

Unter den vier Finalisten war auch Hédi Kaddours "Les Préponderants", ein ebenso elegant erzählter wie pointierter Roman, der vom aufkommenden Nationalismus während der französischen Kolonialzeit in Marokko erzählt. Doch letztlich setzte sich Énard bei der Preisverleihung, die im November eine Woche vor den islamistischen Anschlägen auf das Bataclan und mehrere Cafés und Restaurants in Paris erfolgte, mit seinem Roman "Boussole" ("Kompass") durch.

Der 1972 geborene Énard – bisher vor allem bekannt durch seinen Roman "Zone" – zählt seit Jahren zu den interessantesten Schriftstellern Frankreichs. In seinen Büchern greift er immer wieder das konfliktreiche Verhältnis Europas zu Nordafrika und dem Mittleren Osten auf. Dabei weiß er, wovon er schreibt: Énard hat Persisch und Arabisch studiert und viele Jahre in Beirut, Damaskus und Teheran verbracht, bevor er in Barcelona eine Stelle als Arabischdozent annahm.

Auf der Suche nach einem verfallenen Schloss

Man darf daher annehmen, dass Énard das Hotel "Baron" in Aleppo kennt, in dem einst die melancholische Annemarie Schwarzenbach an Klaus Mann schrieb, und in dem Franz Ritter allen Mut zusammennimmt, um nachts an die Tür der geliebten Sarah zu klopfen, so wie Énard wohl die syrische Wüste kennt, in der sich der Erzähler mit Sarah und dem halbverrückten deutschen Archäologen auf der Suche nach einem verfallenen Schloss verirrt – Orte, die heute unerreichbar sind.

Man darf auch annehmen, dass Énard der Garten des französischen Forschungsinstituts in Teheran vertraut ist, in dem der alternde Institutsleiter dem entsetzten Erzähler und Sarah unter dem Einfluss von zu viel armenischem Wodka erzählt, wie er 1979 einen jungen Kollegen verriet, der sich für die islamische Revolution begeistert hatte, um dessen iranische Verlobte mit falschen Versprechungen ins Bett zu bekommen, bevor er sie an die Henker des neuen Regimes verlor.

Énard ist nicht nur ein feiner Kenner der Region, der aus eigener Anschauung die geschilderten Orte in Istanbul, Aleppo und Wien kennt, sondern auch ein Gelehrter von einem verblüffenden und schier unerschöpflichen Wissen über Geschichte, Musik, Kunst und Literatur, das er sich nach eigener Aussage aus hunderten Büchern angelesen hat und das er in Form von Anekdoten und bisweilen auch von wissenschaftlichen Artikeln in seinen Roman einstreut.

Dass dieser Roman unter der Last dieses Wissens nicht zusammenbricht, ist dem Geschick des Autors zu verdanken, der den Leser immer wieder zurückholt in die Wiener Wohnung von Franz Ritter und zu seinen Erinnerungen an die wunderschöne, brillante Sarah, seine große Liebe, der er über die Jahrzehnte und Kontinente gefolgt ist, die doch aber immer unerfüllt geblieben ist bis zur letzten Seite des Romans, den man, einmal beendet, am liebsten wieder von vorn beginnen möchte.

Ulrich von Schwerin

© Qantara.de 2016

Mathias Énard: "Kompass", Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Hanser Berlin 2016, 432 Seiten, ISBN: 9783446253155