"Nehmt die AfD endlich ernst – sonst geht es euch wie uns!"

Frankreich hat den Front National lange ignoriert - jetzt ist er stärkste Partei. Diesen Fehler darf Deutschland im Umgang mit der AfD nicht wiederholen, meint Christophe Bourdoiseau, Deutschland-Korrespondent der französischen Tageszeitung "Le Parisien".

Essay von Christophe Bourdoiseau

Seit 30 Jahren stimme ich bei Präsidentschaftswahlen in Frankreich nicht mehr für politische Programme. Ich stimme gegen den Front National (FN). Das ist kein demokratischer Akt, sondern Widerstand. So weit muss es in Deutschland mit der AfD nicht kommen.

In den vergangenen 20 Jahren ist das wiedervereinigte Deutschland zu einem Modell für Demokratie und Integration in Europa geworden. Das Land hat sich unglaublich positiv verändert. Die Deutschen sind zuversichtlich und wieder beliebt in der Welt. Sie verhalten sich exemplarisch in der Flüchtlingskrise.

Gegen das System, gegen Europa, gegen den Islam

Nun ist der Aufstieg dieser rechtsextremen Partei eine Bedrohung für den inneren Frieden in Deutschland geworden. Die AfD ist mit dem FN in Frankreich zu vergleichen: gegen das System, gegen Europa, gegen den Islam. Beide bieten Rezepte, die unsere demokratischen Werte infrage stellen und die Zivilgesellschaft spalten werden. Die AfD ist noch nicht so stark wie der FN in Frankreich. Die deutschen Politiker sollten deswegen von den französischen Versäumnissen gegenüber Rechtsextremisten lernen.

Zunächst einmal muss die Gefahr ernst genommen werden. Der erste Fehler war es, den FN zu ignorieren. Französische Politiker haben gedacht, sie könnten weiterregieren, ohne den FN zu berücksichtigen. Sie dachten, der FN sei nicht Frankreich. Die Medien haben ebenfalls zu lange den FN boykottiert - besser: ignoriert -, stattdessen Argumente mit Fakten zu konfrontieren. Viele Franzosen reden schon lange von der "Lügenpresse". Journalisten werden auch von Militanten attackiert. Diese sind überzeugt, dass die Medien die etablierten Parteien schützen.

Frankreichs Rechtsruck

Die rechte Propaganda hat funktioniert. Anti-Islamismus, anti-europäische, auch anti-deutsche Stimmung werden konsensfähig. Heute traue ich mich nicht mehr, in meinem Land gegen Rassismus zu argumentieren. Sogar in dem Dorf im tiefsten Frankreich, wo ich mich immer gerne mit den netten Leuten in den Sommerferien unterhielt, haben 42 Prozent der Wähler ihre Stimme dem FN gegeben. Dort gibt es so gut wie keine Ausländer.

Marine Le Pen; Foto: Reuters
Einem politischen Erdbeben gleich: Bei den Europawahlen 2014 war die Le-Pen-Partei stärkste Kraft in Frankreich geworden. Sie ist mit mehr als 20 Abgeordneten im Europaparlament vertreten. Bei der Präsidentschaftswahl in gut einem Jahr würde Marine Le Pen, die 2011 die Führung von ihrem Vater Jean-Marie übernahm und dessen antisemitische Rhetorik aus dem Parteidiskurs verbannte, nach derzeitigen Umfragen sicher in die Stichwahl kommen.

Die Debatte in Frankreich dreht sich nicht mehr um "Liberté, Égalité, Fraternité", sondern immer mehr um Sicherheit. Die Kernfrage ist, ob der Islam unserer Gesellschaft angehört; sogar ob "uns" die Muslime am Ende ersetzten, wird heute ernsthaft diskutiert. Wo sind wir hingekommen?

Um die Rechtsextremen zu bekämpfen, haben Frankreichs Politiker immer wieder die Wähler gewarnt: Helft uns, den FN zu bekämpfen - mit euren Stimmen für uns. Viele Politiker sind mit dieser "Anti-FN"-Strategie an der Macht geblieben, obwohl sie selber die Ursachen des Rechtsextremismus waren. Aber was nützt eine Stimme "gegen den FN", wenn dieselben Politiker in Affären verwickelt sind und falsche Versprechungen machen?

Falscher Umgang mit der Rechten

Der falsche Umgang mit dem FN macht seit 30 Jahren die französische Demokratie krank. Die etablierten Parteien sind zersplittert und haben ihre Orientierung verloren. Die meisten reagieren panisch und versuchen den FN zu kopieren, um zu retten, was noch zu retten ist.

Der Präsidentschaftskandidat Jacques Chirac fing 1991 an, mit seiner Hetzrede gegen Afrikaner und Muslime. Er könne es "verstehen", sagte er damals, dass Franzosen sich ärgern, wenn "diese Ausländer" mehr Geld durch Sozialleistungen kassieren als sie mit ihrem Job. Müssen die Franzosen "dazu den Lärm und den Geruch noch ertragen?", fügte er hinzu. Der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy führte diese Politik weiter. Ehe er sein "Ministerium für Identität" gründete, versprach er, die Vorstädte, wo Migranten und Arme wohnen, mit einem "Hochdruckreiniger zu säubern".

Dieses "Verstehen" ist das gefährlichste Wort. Wer eine anständige Politik machen will, soll die Ängste der Bürger abbauen. Am Ende wird sonst immer der FN profitieren. In Deutschland gibt es keine Strategie gegen die AfD. Es reicht nicht zu sagen: Die Partei ist widerlich und wird verschwinden, sobald die Flüchtlingskrise zu Ende ist.

Wahlplakat des Front National in Frankreich; Foto: AFP
Gegen europäische Grundwerte, demokratischen Pluralismus und interkulturelle Vielfalt: "Der erste Fehler war es, den FN zu ignorieren. Französische Politiker haben gedacht, sie könnten weiterregieren, ohne den FN zu berücksichtigen. Sie dachten, der FN sei nicht Frankreich. Die Medien haben ebenfalls zu lange den FN boykottiert.

Sich über die AfD lustig zu machen, ist auch keine Lösung. Wir haben es probiert in Frankreich. Wir lachen nicht mehr. In Sachsen hat die CDU diese Erfahrung gemacht. Das Land sei immun gegen Rechtsextremismus, hieß es damals. Das habe ich auch in Frankreich gehört. Vor 20 Jahren. Die CDU Sachsen erntet nun, wie bei uns, die Früchte ihrer blinden Politik.

Zum Glück gibt es noch anständiges politisches Personal in Deutschland, aber die Neigung mancher Politiker zu mehr Härte gegenüber Minderheiten zeigt, dass sich das Versagen Sachsens anderswo wiederholen kann. Teile der CSU versuchen, die AfD rechts zu überholen. Was für ein Fehler! Die Wähler wünschen sich keine Kopie, sie wählen das Original. Genau das ist in Frankreich passiert. Genauso wird es in Deutschland sein. Die C-Parteien werden sich mit solch einer Strategie spalten.

Frankreichs Rechtsstaat auf dem Rückzug

Die deutschen Politiker müssen Kurs halten. Sie sollten Argumente für den Rechtsstaat und für die Demokratie liefern, kein Verständnis zeigen für die Rechten. In Frankreich hieß es früher, der FN stelle gute Fragen, habe aber keine gute Lösung. Inzwischen sehen die Franzosen den FN doch als echte Alternative. Schritt für Schritt erlebe ich in Frankreich seit 20 Jahren einen Rückzug des Rechtsstaats.

Es ist fast wie früher in der DDR: die Ausbürgerung als Waffe für mehr Sicherheit. Welcher Politiker glaubt ernsthaft, dass dies Terroristen abhalten kann? Eine linke Regierung hat es beschlossen, um die Wähler vom FN abzuhalten.

Am Ende wird aber der FN wieder gewinnen. Bei der Europawahl 2014 war er die stärkste Partei Frankreich mit fast 25 Prozent der Stimmen. Bei den Präsidentenwahlen 2017 könnte er sich als stärkste Kraft vor der Stichwahl behaupten. Und wieder werde ich einen ungewünschten Kandidaten wählen, um Widerstand "gegen den FN" zu leisten. Wie lange noch?

Christophe Bourdoiseau

© Süddeutsche Zeitung 2016