Die Tugendwächter von Kairo

Sex, Religion und Politik sind ein rotes Tuch für Ägyptens Zensoren. Dies gilt insbesondere für Kulturschaffende, die seit dem Machtantritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi immer stärker unter der Zensur leiden, wie Elisabeth Lehmann aus Kairo berichtet.

Von Elisabeth Lehmann

Zwei Handgriffe und Shady liegt am Boden. "Du musst richtig abrollen, sonst sieht es unnatürlich aus. Und es tut weh." Ein Trainer gibt Shady und seinem Schauspieler-Kollegen die letzten Tipps für ihren Auftritt am nächsten Tag. Das Stück "500s" hat Premiere beim Hakawy-Festival im Kairoer Opernhaus. Es geht um's Erwachsenwerden in Ägypten, um die erste Freundin, Probleme in der Schule und mit Kumpels. Die beiden Jungs müssen sich auf der Bühne prügeln.

Sondos Shabayek, Regisseurin des Stücks, steht in der Ecke des schwarzen Theatersaals und spielt nervös an ihrem Handy herum. Eigentlich waren wir zum Interview verabredet. "Sorry, aber ich kann jetzt nicht. Wir haben ein Riesenproblem." Das Riesenproblem liest sich auf der Facebook-Seite des Festivals am nächsten Tag so: "Aufgrund von technischen Probleme wurde das Stück '500s' abgesagt."

"Technische Probleme ist eine sehr diplomatische Umschreibung. Es war schlicht und einfach Zensur." Die Theater-Leitung habe sich an einer Szene gestört, erzählt Shabayek. "Wir sprechen darin über die 'geheime Gewohnheit', ein Slangwort für Masturbation."

Diese zwei Worte reichten, um das gesamte Stück von den staatlichen Bühnen Ägyptens zu verbannen. "Die Theaterleitung hat von uns gefordert, dass wir das Skript umschreiben und die Szene rausnehmen." Shabayek weigerte sich. Sie hatte alle Regeln eingehalten. Sie hatte das Drehbuch vorher der Zensurbehörde geschickt – und diese hatte "500s" als "plus13" freigegeben, ohne Änderungen.

"In Ägypten haben wir drei große Tabus: Religion, Sex und Politik", erklärt Hossam Fazealaa. Der zierliche junge Mann sitzt zwischen Umzugskartons auf einem Bürostuhl, der noch in Folie eingeschweißt ist. In der Ecke des mondänen Büros steht ein Schild mit der Aufschrift "Afte – Gesellschaft für die Freiheit des Denkens und des Ausdrucks".

Masse statt Klasse

Fazealaa untersucht seit Jahren die Hintergründe und Auswirkungen der Zensur in Ägypten. Er hat bereits unzählige Abhandlungen zu dem Thema herausgegeben. Nur mit einer Antwort auf die Frage, warum die Machthaber so "zensierwütig" sind, tut Fazealaa sich immer noch schwer. "Ich denke, sie versuchen eine Art Modell-Bürger zu erschaffen, damit sie ihre Ideologie verwirklichen können. Das ist leichter, wenn alle gleich denken. Eine andere Logik sehe ich nicht."

Fathy Abdel Satar, Chef der "Aufsicht über künstlerische Erzeugnisse" des ägyptischen Kultusministeriums
"Geschulte Augen und Ohren": Wer auf dem ägyptischen Markt Erfolg haben will, muss sich am Geschmack der Masse orientieren. Und wie der aussieht, das geben Zensoren wie Fathy Abdel Satar, Chef der "Aufsicht über künstlerische Erzeugnisse" des ägyptischen Kultusministeriums, und seine Leute vor.

In der Praxis bedeutet das massive Einschränkungen für Künstler und Kreative. Bevor ein Projekt überhaupt auf den Weg gebracht werden kann, muss es der "Aufsicht über künstlerische Erzeugnisse" vorgelegt werden – einer Behörde, die Teil des Kultusministeriums ist. Dessen Chef ist Fathy Abdel Satar, ein ergrauter Mann um die 50 mit klaren Vorstellungen, was gute Kunst ist und was nicht.

"Jeder Künstler, der mit seiner Arbeit im Reinen ist, kann mit der Zensurbehörde leben. Fragen Sie doch die etablierten Leute in unserem Land." Abdel Satar sagt dies im Film "Authorised to be shown", den Afte vor wenigen Wochen veröffentlicht hat. Abdel Satar ist der Überzeugung, dass seine Behörde den Kreativen im Land einen Gefallen tue. "Es gibt viele Leute, die uns dankbar sind, weil wir ihnen geholfen haben, die Sache in Form zu bringen. Wir müssen manchmal eingreifen, die Mitarbeiter hier in der Behörde haben geschulte Augen und Ohren." Denn das ägyptische Publikum akzeptiere nun einmal nicht alles. Wer also Erfolg haben wolle auf dem ägyptischen Markt, der müsse sich am Geschmack der Masse orientieren. Und wie der aussieht, das geben Abdel Satar und seine Leute vor.

Minenfeld Politik

Tatsächlich kommen Beschwerden über Filme, Lieder oder Theaterstücke meist von empörten Bürgern. Mal sehen sie die öffentliche Moral verletzt durch zu viel nackte Haut, mal die Religion beleidigt. Das größte Minenfeld ist die Politik. "Die Menschen haben aufgehört, kontroverse Sachen zu machen, weil es einfach zu gefährlich ist." Seit der neue Präsident Abdel Fattah Al Sisi an der Macht ist, seien die Kriterien für Veröffentlichungen noch strenger geworden, beobachten Fazealaa und seine Kollegen.

Der ägyptische Satiriker Bassem Youssef; Foto: dpa/picture-alliance
Ägyptens Machthaber ein Dorn im Auge: Weil er den damaligen Armeechef und heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi in einer Folge im November 2013 durch den Kakao gezogen hatte, hatte der Privatsender CBC die Show des Satirikers Bassem Youssef aus seinem Programm genommen. Ihm wurde "Verletzung der redaktionellen Grundsätze" vorgeworfen. Als sich CBC weigerte, "Al-Bernameg" wieder auszustrahlen, kündigte Youssef und wechselte zum Sender MBC Masr, der saudische Eigentümer hat. Dort war "Die Show" ab Februar wieder zu sehen, allerdings nur vier Monate. Es habe "enormen Druck" auf ihn gegeben, begründete Youssef damals das abermalige Ende.

Unter Mubarak habe es zumindest noch kleine Spielräume für kritische Filme, Stücke oder Bücher gegeben. Nach der Revolution von 2011 hatten sich diese Spielräume schlagartig erweitert. Es entstand eine lebhafte öffentliche Debatte über Politik, soziale Probleme, unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe. "Dieses Fenster wurde seit der Absetzung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi vor zwei Jahren fest verschlossen." Jeder, der es wagt die Machthaber zu kritisieren, wandert entweder hinter Gitter, wird vom Bildschirm verbannt oder ins Exil gezwungen. Bekannte Beispiele sind der Blogger Alaa Abdel Fattah und der Satiriker Bassem Youssef.

Keine richtigen Künstler im Land

Was übrig bleibt, ist der Mainstream. "Wir haben keine richtigen Künstler mehr in unserem Land", stellt Fazealaa konstatiert fest. "Alle Filme der letzten Jahre sahen gleich aus." Wer wirklich begabt sei, der arbeite entweder im Untergrund oder außerhalb Ägyptens.

Eine Option, die für Sondos Shabayek nicht in Frage kommt. "Natürlich könnte ich jammern und sagen, wie schwer es ist, in Ägypten zu arbeiten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit." Wenn es dann doch einmal eines ihrer Stücke auf die Bühne schafft, seien es die Reaktionen der Zuschauer, die sie weitermachen ließen. "Das Publikum ist oft so dankbar, dass wir Probleme ansprechen, die jeder aus eigener Erfahrung kennt, aber über die nie gesprochen wird. Und das entschädigt ganz oft für den Kampf im Vorfeld."

Die fünf Schauspieler von "500s" sitzen sich auf der kleinen Bühne gegenüber und tuscheln. Ob er es denn auch schon mal gemacht habe, die "geheime Gewohnheit", wird Shady gefragt. Die Zuschauer lachen laut auf. Jeder weiß, wovon die Rede ist, ohne dass das Wort "Masturbation" auch nur ein einziges Mal im Raum steht. Das Stück "500s" hat es schließlich doch noch auf die Bühnen Ägyptens geschafft, zumindest auf die privaten.

Elisabeth Lehmann

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