Verteufelt und ewig missverstanden

Die Verfolgung durch den "Islamischen Staat" hat die Jesiden ins Schlaglicht der Öffentlichkeit gerückt. Doch um welche religiöse Minderheit handelt es sich, deren Anhänger von den Dschihadisten als "Teufelsanbeter" verfolgt werden? Die Orientalistin Birgül Acikyildiz gibt in ihrem Buch "The Yezidis" Antworten auf die Kultur und den Glauben dieser bedrohten Gemeinschaft. Von Ulrich von Schwerin

Von Ulrich von Schwerin

Die Flucht zehntausender Jesiden vor der Dschihadistengruppe "Islamischer Staat" (IS) in die Sindschar-Berge im Nordirak hat im August die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die Gefahr eines Völkermords an dieser kleinen Religionsgemeinschaft, die seit Jahrhunderten immer wieder Verfolgung und Vertreibung ausgesetzt ist, alarmierte die Weltgemeinschaft. Mit internationaler Unterstützung gelang es syrischen Kurden-Kämpfern schließlich, die meisten Jesiden aus den Bergen in Sicherheit zu bringen. Doch noch immer gibt es regelmäßig Berichte über Hinrichtungen, Zwangskonversion und die Versklavung jesidischer Frauen.

Warum werden die Jesiden verfolgt? Trotz des Interesses an ihrem Schicksal ist wenig über ihre Herkunft, ihre Kultur oder ihren Glauben bekannt. Mit ihrem Buch "The Yezidis" gibt die türkische Orientalistin und Kunsthistorikerin, Birgül Acikyildiz, eine ebenso verständliche wie umfassende Einführung zu dieser Religionsgemeinschaft, die bald ganz aus dem Mittleren Osten verschwunden sein könnte. Für ihre Arbeit unternahm Acikyildiz zwischen 2002 und 2005 mehrere, teils abenteuerliche Recherchereisen in die Siedlungsgebiete im Nordirak, aber auch nach Syrien, Armenien und in die Türkei.

Insgesamt lebten laut der Autorin vor dem jüngsten Konflikt 518.000 Jesiden im Nordirak, davon allein 300.000 in der Region Sindschar. Die jesidischen Gemeinden in den Nachbarländern sind demnach deutlich kleiner, zumal die meisten Jesiden aus der Türkei seit den 1960er Jahren nach Deutschland ausgewandert sind. Ganz überwiegend sind die Jesiden Kurden. In den Autonomen Kurdengebieten im Nordirak, wo sich auch die wichtigsten Heiligtümer der Jesiden befinden, genießen sie Schutz und Respekt, doch sonst ist das Verhältnis zu den Muslimen von Spannungen geprägt.

Eine der ältesten Religionen der Region

Buchcover Birgül Acikyildiz: "The Yezidis: The History of a Community, Culture and Religion" von Birgül Acikyildiz
"Wie sich die Jesiden vor ihrer Auslöschung schützen wollen, bleibt eine offene und drängende Frage", schreibt Acikyildiz in ihrem Buch "The Yezidis". "Ohne internationalen Schutz ist das Überleben der jesidischen Kultur bedroht."

Die Jesiden betrachten sich als eine der ältesten Religionen der Region, doch ihre heutige Glaubenspraxis geht auf Scheich Adi (1073-1163) zurück – einen muslimischen Sufi-Gelehrten, der sich aus Bagdad ins nordirakische Lalisch-Tal zurückzog, wo er einen Konvent gründete und den Sufi-Orden der Adawija etablierte. Teile der örtlichen Bevölkerung, die einen von alten iranischen Religionen wie dem Zoroastrismus beeinflussten Glauben praktizierten, schlossen sich Scheich Adi an und übernahmen seine Lehren. Nach seinem Tod brachten sie ihrerseits Elemente ihres Glaubens ein.

Bis zum 15. Jahrhundert bildete sich so eine eigene jesidische Religion heraus, die bis heute mündlich – vorwiegend durch religiöse Gesänge – überliefert wird. Darin finden sich zwar einzelne islamische Elemente, doch unterscheidet sie sich allgemein deutlich vom Islam.

Die Jesiden glauben an einen Gott (Xwede), doch hat dieser "Melek Taus", den Engel Pfau, zu seinem Vertreter auf Erden gemacht. "Melek Taus" ist das Oberhaupt der sieben Engel und bildet mit Scheich Adi und Scheich Ezi die heilige Trinität, wobei Scheich Ezi womöglich auf den islamischen Kalifen Yazid zurückgeht.

"Melek Taus", dessen Symbol der blaue Pfau ist, hat eine zentrale Rolle im Glauben der Jesiden. Die Tatsache, dass die Figur dieses Engels auch im Islam und im Christentum existiert, dort aber mit dem Satan (einem gefallenen Engel) gleichgesetzt wird, führte dazu, dass die Jesiden als "Teufelsanbeter" betrachtet wurden.

Wie Acikyildiz betont, handelt es sich hier jedoch um ein Missverständnis, da "Melek Taus" den Jesiden nicht als Satan gilt. Auch habe er keine von dessen Eigenschaften und gelte nicht als Gegenspieler Gottes, sondern als Mittler zwischen Gott und den Menschen.

Verketzert und verfolgt

Dennoch waren die Jesiden als "Teufelsanbeter" immer wieder Verfolgung ausgesetzt. Auch wenn sie Monotheisten sind, galten sie Muslimen nicht als Anhänger einer Buchreligion wie Juden und Christen, sondern als Ungläubige, die vom Islam abgefallen sind. Im Osmanischen Reich kam hinzu, dass sich die Jesiden weigerten, Steuern zu zahlen und Militärdienst zu leisten. Im Jahr 1890 setzten die Osmanen den Jesiden ein Ultimatum, zum Islam zu konvertieren. Da sie sich weigerten, wurden ihre Siedlungsgebiete Sindschar und Scheichan besetzt und die Bewohner massakriert.

Im Ersten Weltkrieg wurden neben den Armeniern auch die Jesiden erneut verfolgt, weshalb Tausende ins sowjetische Armenien flohen. Wie Acikyildiz schreibt, hat die Erfahrung der Verfolgung die Jesiden zu einer nach innen gekehrten Gemeinschaft gemacht, die Fremden mit Vorsicht begegnet. Geheiratet wird fast nur untereinander, wobei auch zwischen den drei sogenannten "Kasten" Heiratsverbote bestehen. Wer doch einen Muslim oder Christ heiratet, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Ein Übertritt zum jesidischen Glauben ist umgekehrt nicht möglich.

Jesidische Flüchtlinge im Sindschar-Gebirge; Foto: picture-alliance/abaca/Depo Photos
Im Visier der Dschihadisten: Im vergangenen Sommer hatte der Vorstoß der der IS-Terrormiliz zehntausende Jesiden zur Flucht in die Sindschar-Berge gezwungen. Mit internationaler Unterstützung gelang es schließlich kurdischen Kämpfern, die meisten Jesiden aus den Bergen in Sicherheit zu bringen. Die Dschihadisten betrachten die Jesiden als "Teufelsanbeter" und drohen den Angehörigen der kleinen Religionsgemeinschaft mit dem Tod, wenn sie nicht zum Islam konvertieren.

Acikyildiz schildert die Jesiden als stark patriarchale Gemeinschaft, in der Frauen bis heute vor allem für Kinder und Haushalt zuständig sind. Als die Forscherin in der Stadt Behzane abends im Restaurant essen wollte, wurde ihr gesagt, Frauen täten dies nicht. Als sie dennoch darauf bestand, wurde sie, wie ihr Führer sagte, zur ersten Frau, die in Behzane jemals in der Öffentlichkeit aß. In den dörflichen Gemeinden werden Ehen weiterhin von den Eltern arrangiert. Der Bildungsstand ist gering – bis vor nicht langer Zeit war Lesen und Schreiben den geistlichen Kasten vorbehalten.

Undogmatisch, aber traditionell

In ihrem Buch beschreibt Acikyildiz ausführlich die Grab- und Schreinarchitektur der Jesiden, die sich durch konische, gerippte Dächer auszeichnet. Die Mausoleen der Heiligen, allen voran das Grabmal von Scheich Adi in Lalisch, spielen eine zentrale Rolle bei Ritualen und Festen, da es keine Moscheen oder Kirchen vergleichbare Gebetsstätten gibt. Laut Acikyildiz existiert keine Tradition des gemeinschaftlichen Gebets, sondern jeder betet für sich, der Sonne zugewandt. Eine feste Form gibt es demnach nicht, auch ist das Gebet ebenso wie das Fasten nicht Pflicht.

Wie Acikyildiz die Jesiden beschreibt, erscheinen sie als undogmatische, doch zutiefst traditionelle Gemeinschaft. Bereits seit der US-Invasion 2003 waren die Jesiden Anschlägen radikaler Islamisten ausgesetzt – allein im August 2007 mit mehr als 500 Toten.

Die Verfolgung durch die IS-Terrormiliz hat nun ein Ausmaß erreicht, das die Existenz der Volksgruppe in Frage stellt. "Wie sie sich vor ihrer Auslöschung schützen wollen, bleibt eine offene und drängende Frage", schreibt Acikyildiz. "Ohne internationalen Schutz ist das Überleben der jesidischen Kultur bedroht."

Ulrich von Schwerin

© Qantara.de 2014

Birgül Acikyildiz: "The Yezidis: The History of a Community, Culture and Religion", London, I.B. Tauris, 2014, 283 Seiten.