Im Zwist um ein Stück Stoff

Das Kopftuchurteil der Karlsruher Richter vom 13. März stößt in der Öffentlichkeit auf geteilte Resonanz. Während die einen von einer richtungsweisenden Entscheidung sprechen, sehen andere darin nicht die Lösung des Problems, sondern eine denkbare Ursache von Problemen. Canan Topçu fasst die Positionen zusammen. Von Canan Topçu

Von Canan Topçu

Die Entscheidung der Karlsruher Richter wird von Politikern und Prominenten, von Schulleitern und Lehrern, von Juristen und Journalisten, von Islamwissenschaftlern und islamischen Theologen wie auch von Vertretern der islamischen Verbände vielfach kommentiert. Auch junge muslimische Frauen mit und ohne Kopftuch melden sich zu Wort – aber zumeist in den Sozialen Netzwerken. Sie ärgern sich vor allem über all jene, die meinen zu wissen, was in ihren Köpfen vorgeht und welche Gesinnung sie zum Verhüllen ihres Haares drängt und wer sie dazu zwingt.

Die Trennlinie der Positionen zum Kopftuch-Urteil verläuft zwischen überzeugten Befürwortern der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das ihrer Meinung nach endlich die Ungleichbehandlung von Religionen aufhebt, und den Kritikern des Urteils, die etwa die Neutralität von Kopftuch tragenden Lehrerinnen in Frage stellen und "fatale Folgen" des Urteils prognostizieren.

"Ein großartiger Schritt in die richtige Richtung"

Die Berliner Juristin und inzwischen prominente Bloggerin Betül Ulusoy notierte kurz nach Bekanntwerden des Urteils in ihrem Blog: "Ich laufe heute wie eine Siegerin durch die Straßen – gemächlich und zufrieden, mit erhobenem Haupt. Mein Kopftuch wurde sinnbildlich lange genug mit Füßen getreten. Heute darf es einmal glücklich sein, auf Augenhöhe begegnen, die ungewohnte Höhe genießen". Nachdem sie vom Urteil erfuhr, habe sie vor Freude und Erleichterung angefangen zu weinen. Das Aufheben des generellen Kopftuch-Verbots an Schulen sei "ein großer und großartiger Schritt in die richtige Richtung", so Betül Ulusoy.

Anders bewerten die Entscheidung des Gerichts Personen wie der scheidende Neu-Köllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der ehemalige Verfassungspräsident  Hans-Jürgen Papier und der CDU-Politiker Winfried Mack aus Baden-Württemberg. Den Richterspruch interpretiert der stellvertretende Fraktionsvorsitzende als "Ausdruck falsch verstandener Toleranz".

Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky; Foto: dpa/picture-alliance
Empfindet das Kopftuch-Urteil als "Katastrophe": Der scheidende Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, hatte scharfe Kritik an der jüngsten Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geübt. Der Richterspruch, der allgemeine Kopftuch-Verbote an Schulen für unzulässig erklärte, transportiere eine "völlig falsche Botschaft" zulasten der liberalen Muslime in Deutschland, sagte Buschkowsky im Deutschlandfunk.

Das Kopftuch beinhalte eine starke politische Symbolik. Ein Blick in die islamische Welt helfe, um zu sehen, dass überall dort, wo eine Region in Richtung Gottesstaat tendiere, als Erstes die Kopftuchpflicht eingeführt werde. "Wir sollten bei uns nicht jenen Vorschub leisten, die den traditionellen Islam einführen wollen", so Mack. In Deutschland als einem "christlich geprägten Land" hätten sich Werte ausgeprägt, zu denen die Gleichberechtigung der Frau gehöre. Das Kopftuch widerspräche diesen Werten und gefährde die Integration. "Wenn eine Lehrerin ein Kopftuch trägt, wird Druck aufgebaut auf die Kinder und deren Eltern."

Zunehmender sozialer Druck auf säkulare Muslime?

Während sich der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier in seiner Kritik am Richterspruch auf juristische Konsequenzen konzentriert und prognostiziert, dass das Kopftuch-Urteil zu "unerfreulichen Streitigkeiten" führen werde, argumentiert Buschkowsky ähnlich wie der Christdemokrat Mack und prophezeit, dass das Urteil zur Verbreitung von "alt Überliefertem" in muslimischen Communities führen werde. Dieses "alt Überlieferte" beschrieb Buschkowsky jüngst im Interview der Woche auf Deutschlandfunk so: "Die Frau hat zu gehorchen, sie hat rein und devot zu sein und sie ist das Eigentum ihres Mannes. Und die Botschaft ist: Oma trägt Kopftuch, die Tanten tragen Kopftuch, Mutter trägt Kopftuch und die Lehrerin trägt es auch."

Das Urteil werde dazu beitragen, dass "der soziale Druck im Wohngebiet auf die säkularen, auf die liberalen Muslime" stark zunehme. Nach Ansicht des scheidenden Neu-Köllner Bürgermeisters haben diejenigen, die dieses Urteil gefällt haben, "keine Ahnung, wie es in Gebieten und Stadtlagen wie Neu-Kölln zugeht – oder in Mannheim (...) oder in Duisburg oder Dortmund“. Die Richter hätten "eine Säule unserer Gesellschaft ohne Not geschleift“ und sendeten eine "völlig falsche Botschaft". Das Urteil sei "ein weiteres Einknicken" vor denen, "die wie Lautsprecher durch das Land gehen und immer einfordern, dass sie benachteiligt sind, dass sie Opfer sind".

Wer solche Bedrohungsszenenarien entwirft, der weiß wiederum nicht viel über all jene Kopftuchträgerinnen, die es leid sind, immer wieder erklären zu müssen, dass sie in keiner Weise zum Verschleiern ihres Haares gezwungen werden. Bemerkenswert ist, dass Politiker und Politikerinnen, Journalisten und Journalistinnen, die dieser Tage den Richterspruch kritisieren, meinen zu wissen, was in den Köpfen der Kopftuchträgerinnen vor sich geht – etwa dass es sich beim Kopftuch um eine Demonstration religiöser Überzeugungen oder politischer Gesinnung handle, der sich Schüler nicht entziehen könnten.

Dabei sind gerade die jungen Kopftuchträgerinnen, die sich für den Beruf der Lehrerin entschieden haben, selbstbewusste und kluge Frauen, die in ihrer Schulzeit keineswegs von Pädagogen unterrichtet wurden, die ihrer Neutralitätspflicht nachkamen. Fast alle diese jungen Musliminnen haben Diskriminierung durch Lehrer und Lehrerinnen erfahren – aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit und aufgrund ihres Kopftuchs.

Gewachsenes Selbstbewusstsein

Eine von diesen jungen Frauen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, die hier einen akademischen Abschluss erlangt haben oder noch studieren, als Bürger dieses Landes wahrgenommen werden möchten, ist Elifcansu Güler. Die 25-Jährige studiert in Heidelberg Germanistik, Geschichte und Pädagogik auf Lehramt und wird in diesem Herbst ihr erstes Staatsexamen machen. Ihr Kopftuch hielt sie nicht davon ab, ihrem Berufswunsch nachzugehen und auf Lehramt zu studieren. "Ich habe mir gedacht: Wer weiß, was in fünf Jahren ist."

Die muslimische Lehrerin Fereshta Ludin; Foto: picture-alliance/dpa/D. Gerlach
Kopftuchstreit mit einer langen Historie: Vor mehr als elf Jahren hatte die Muslima Fereshta Ludin vor dem Verfassungsgericht um ihr Recht gestritten, als Lehrerin im Staatsdienst Baden-Württembergs ein Kopftuch zu tragen. Das Gericht entschied, dass Kopftuchverbote möglich sind, wenn sie eine gesetzliche Grundlage haben. Nach dem Urteil 2003 erließen mehrere Bundesländer pauschale Kopftuchverbote. Mit seiner jüngsten Entscheidung wendet sich Karlsruhe aber von seinem umstrittenen Kopftuch-Urteil gegen die muslimische Lehrerin Fereshta Ludin von 2003 ab, mit dem das Gericht den Startschuss für pauschale Verbote gab.

Das Kopftuch trägt sie seit ihrem siebzehnten Lebensjahr. Es sei ihr Wunsch gewesen – und habe in der Familie zu Streit geführt. Weil weder ihre Eltern, noch ihr älterer Bruder das gut geheißen hätten. Der Bruder habe mit ihr vier Jahre lang kein Wort gesprochen, inzwischen aber sich das Verhältnis normalisiert, erzählt Elifcansu Güler.

Vom Urteil aus Karlsruhe erfuhr die junge Frau über eine Textnachricht, die ihr ein Freund zuschickte. "Glückwunsch zur Aufhebung des Kopftuch-Verbots" las sie und wusste zunächst nicht, was es mit dieser Information auf sich hat. "Ich bin sofort ins Internet und habe die Nachrichten verfolgt", berichtet sie. Doch ihre Reaktion fiel anders als bei Betül Ulusoy aus: kein Freudentanz und auch keine Freudentränen. "Wird sich tatsächlich was ändern?"

Als Erstes sei ihr diese Frage durch den Kopf gegangen. Sie habe aber auch Veränderungen an sich festgestellt. "Mein Selbstbewusstsein war plötzlich größer. Es hat mir gut getan, von hoch offizieller Stelle bestätigt zu bekommen, durch das Tragen eines Kopftuchs nicht als verfassungsfeindlich und gefährlich zu gelten", sagt die junge Frau.

In den nachfolgenden Tagen, als sie Statements von Politikern las, die sich wegen des Richterspruchs in ihren Positionen als Kopftuch-Befürworter bestätigt fühlten, da spürte Elifcansu Güler jedoch auch ein deutliches Missbehagen. In ihr stieg Ärger über all jene Politiker auf, die in all den vergangenen Jahren nichts gegen das Kopftuch-Verbot unternommen hätten und sich nun in den Medien als Befürworter des Urteils zitieren ließen.

Verlagerung des Problems

Zu denen, die sich über das Urteil aus Karlsruhe gefreut haben, zählt auch Durre Ajam Loun. Die angehende Lehrerin trägt seit ihrem vierzehnten Lebensjahr ein Kopftuch und hat sich ebenfalls nicht davon abhalten lassen, Lehramt zu studieren. Die Tochter pakistanischer Eltern ist in Deutschland geboren, hat Deutsch, Philosophie und Ethik studiert und im vergangenen Herbst ihr zweites Staatsexamen absolviert.

 Elifcansu Güler (links im Bild) gemeinsam mit ihrer Schwester Banu; Foto: Canan Topçu
Wird sich nach dem Urteil tatsächlich etwas ändern? Elifcansu Güler (links im Bild) meint: "Mein Selbstbewusstsein war plötzlich größer. Es hat mir gut getan, von hoch offizieller Stelle bestätigt zu bekommen, durch das Tragen eines Kopftuchs nicht als verfassungsfeindlich und gefährlich zu gelten."

Nach Jubelrufen ist auch der heute 26-Jährigen nach dem Urteil der Karlsruher Richter nicht zumute, denn dieses habe keineswegs Rechtsklarheit geschaffen. "Das Problem wird nur verlagert", meint Loun. Nunmehr müsse zwar die Schule nachweisen, dass von Kopftuch tragendenden Lehrerinnen wie ihr eine konkrete Gefahr ausgehe, um das Unterrichten mit Kopftuch zu verbieten. Das Urteil werde jedoch eingeschränkt durch den Passus, dass ein Verbot ausgesprochen werde könne, wenn es eine "konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens" gebe.

Genau auf diese Einschränkung weist auch Erdal Toprakyaran hin. Auch für den Direktor des Islamzentrums an der Universität Tübingen ist das Urteil kein Anlass zur wirklichen Freude. Es sei durchaus möglich, dass Kopftuch tragende Lehrerinnen – gerade im ländlichen Raum – auf Widerstand stießen und Eltern gegen sie protestieren. "Wenn diese Eltern sich weigern, ihre Kinder von einer verschleierten Lehrerin unterrichteten zu lassen, dann ist bereits der Schulfrieden gestört", erklärt Toprakyaran. Und noch ein weiteres Szenario bringt der Wissenschaftler ein: Auch Schulleiter oder Lehrer, die keine Kopftuchträgerinnen im Kollegium haben möchten, könnten auf subtile Weise Stimmung gegen solche Lehrerinnen machen und Eltern indirekt zu Protesten motivieren.

Studie: Junge Menschen haben nichts gegen das Kopftuch

Schüler scheinen jedenfalls mit Kopftuch tragenden Lehrerinnen weniger Probleme zu haben als Politiker und Publizisten, die das Argument der Neutralitätspflicht von Pädagogen heranziehen, um sich gegen Lehrerinnen mit Kopftuch auszusprechen. Just an dem Tag, an dem der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bekannt gegeben wurde, ist auch eine Untersuchung über die Einstellungen junger Menschen in Deutschland veröffentlicht worden.

Wie der Studie Deutschland Postmigrantisch II zu entnehmen ist, finden 71 Prozent der befragten 16- bis 25-Jährigen, dass Lehrerinnen das Recht haben sollten, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. "Unter denjenigen, die selbst noch Schülerinnen und Schüler sind, sprechen sich sogar mehr als drei Viertel gegen ein Kopftuchverbot aus", so die Forscher.

Diesen Befund interpretiert Naika Foroutan, Sozialwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität und Leiterin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), folgendermaßen: "Offenbar ist für die jüngere Generation das Kopftuch kein fremdes oder angsterregendes Zeichen, sondern schlichtweg ein religiöses Symbol, welches zum Glauben eines anderen Individuums dazugehört".

Canan Topçu

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