Schlacht der Fatwas

Bei seinem Versuch, die größtenteils unkodifizierten Gesetze im Straf-, Zivil- und Familienrecht schriftlich niederzulegen, kämpft König Abdullah von Saudi-Arabien gegen eine Kakophonie kontroverser saudischer Gelehrtenstimmen. Von James M. Dorsey

König Abdullah von Saudi-Arabien; Foto: AP
König Abdullah kämpft gegen eine Flut kontroverser Fatwas und Gelehrten an, die sich seiner Justizreform entgegen stellen.

​​ Als Antwort auf umstrittene religiöse Stellungnahmen und Gerichtsurteile musste König Abdullah von Saudi-Arabien in den vergangenen Monaten wiederholt intervenieren, um sicherzustellen, dass keine der skandalösen Forderungen umgesetzt wird; zugleich hat er den Urhebern derselben den Zugang zu den Medien eingeschränkt.

Dabei scheint Abdullah in seinem Kampf um eine umfassende Justizreform und Kodifizierung des saudischen Rechts, die den Standards der Welthandelsorganisation (WTO) ebenso gerecht wird wie den allgemeinen Menschenrechten, die Oberhand zu gewinnen.

Die Justizreform soll auch ausländische Investitionen erleichtern, die Rechtspraxis standardisieren und den Gerichten Vollstreckungsbefugnisse verleihen.

Neuordnung des Gerichtswesens

Erst kürzlich gelang Abdullah ein wichtiger Etappensieg auf diesem Weg, als die oberste religiöse Instanz des Königreichs Unterstützung für seine Reform und seine Vorschläge zur Kodifizierung signalisierte. Abdullah verfügte auch, dass es nur Mitgliedern des Hohen Rates für Justizfragen gestattet sei, Fatwas auszusprechen, um religiösen Urteilen vorzubeugen, die das Königreich in Verlegenheit bringen könnten.

Moderne Hochhäuser überragen das islamische Heiligtum der Kaaba in Mekka; Foto: Meshal Obeidallah
Ein saudischer Gelehrter schlug vor, dass die Große Moschee in Mekka abgerissen und neu aufgebaut werden sollte, um bei der Wiedererrichtung eine Trennung der Geschlechter sicherzustellen.

​​ Schon im letzten Jahr hatte Abdullah Scheich Salih al-Luheidan seines Postens als Vorsitzenden des Obersten Justizrates enthoben, da der ultrakonservative Geistliche sich der Umsetzung der vom König betriebenen Neuordnung des Gerichtswesens widersetzte.

Anwälte und Experten sagen, dass die jüngste Welle kontroverser Fatwas einen Versuch seiner Gegner sowohl innerhalb der königlichen Familie als auch unter den konservativen Gelehrten darstelle, den Reformbemühungen Abdullahs entgegenzuwirken.

Sie befürchten, dass die Reformen die konservative Auslegung des islamischen Rechts unterminieren könnten, aber auch, dass die Unabhängigkeit der Richter gefährdet sei, wenn sie auf die Befolgung kodifizierter Gesetze und Regeln verpflichtet würden. "Das traditionelle Establishment ist schon von Natur aus gegen diese Reformen. Deshalb wird es einige Zeit dauern, sie umzusetzen", meint der in Riad ansässige Anwalt Ibrahim al-Modaimeegh.

Widerstand gegen das Prinzip der Vergeltung

Im letzten Urteil, das weltweit Bedenken ausgelöst hatte, ordnete der saudische Richter Scheich Saud Al-Yousef an, dass ein Mann zur Strafe gelähmt werden soll, weil er seinem mutmaßlichen Opfer in einem Streit eine Lähmung durch Verletzung des Rückenmarks mit einem Fleischerbeil zugefügt hatte. Nach dem Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn" soll der Angeklagte ebenfalls am Rückenmark verletzt und gelähmt werden wie das 22-jährige Opfer Abdul-Aziz al-Mitairy.

Al-Mitairy selbst hatte das Gericht in der Stadt Tabuk angerufen, um darum zu bitten, die Strafe für den Täter auf eine siebenmonatige Haftstrafe und einer entsprechenden körperlichen Züchtigung gemäß dem islamischem Prinzip der qisas (Wiedervergeltung) festzusetzen.

Geschäftsfrauen in Saudi-Arabien; Foto: AP
Zunehmend drängen Geschäftsfrauen in den saudischen Arbeitsmarkt; dogmatische Gelehrte wollen sie jedoch weiterhin aus der Öffentlichkeit verbannt sehen.

​​ In der Vergangenheit wurden in Saudi-Arabien gemäß der qisas Strafen verhängt wie das Ausstechen von Augen, Zahnziehen - und im Falle von Tötungsdelikten auch Hinrichtungen. Zwei saudische Krankenhäuser, darunter auch das angesehene König Faisal Krankenhaus und Forschungszentrum in Riad, wiesen die Forderung des Richters allerdings zurück.

Amnesty International verwies in einer Stellungnahme darauf, dass ein anderes Krankenhaus den Richter über die Möglichkeit informiert hätte, dem Täter medizinisch eine identische Verletzung hinzuzufügen:

"Nach den internationalen Gesetzen für Menschenrechte würde eine Anwendung dieser Strafe jedoch eine Verletzung des absoluten Verbots der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder herabwürdigender Behandlung oder Strafen darstellen", hieß es von Seiten des Krankenhauses weiter. Stattdessen wurde vorgeschlagen, eine Haftstrafe oder ein Bußgeld zu verhängen oder den Verurteilten auszupeitschen.

Hierzu sagen Regierungsvertreter, dass Abdullah den Richter Al-Yousef dazu überredet habe, zu leugnen, dass er ernsthaft die Verstümmelung anordnen lassen wollte. Die Zeitung Al-Riyadh zitierte den Richter: Dieser Fall sei noch anhängig und bisher sei kein Urteil gefällt.

Al Yousef sagte, dass bei Krankenhäusern und anderen Experten Informationen zur geforderten Lähmung eingeholt worden seien, um den Kläger davon zu überzeugen, dass es unmöglich sei, eine solche medizinische Prozedur durchzuführen. "Der Kläger verlangte nach einer Bestrafung des Täters, doch das Urteil in diesem Fall sieht einzig die Forderung nach einem Blutgeld als gerechtfertigt an", fügte er hinzu.

Die pikante und kuriose Frage der Geschlechtertrennung

Ungefähr zur gleichen Zeit ließen die saudischen Behörden auf Anordnung Abdullahs die tägliche Radiosendung des Scheichs Abdel Mohsen Obeikan, einem Berater des Königs, einstellen. Letzterer hatte vor einiger Zeit durch die Verfügung Aufsehen erregt, dass Frauen Männern ihre Milch geben könnten, um unerlaubtem Kontakt zwischen den Geschlechtern vorzubeugen:

Die Kaaba in Mekka; Foto: AP
Verlust der Glaubwürdigkeit: Der Generationenstreit unter saudischen Gelehrten verliert sich bisweilen in lächerlichen Details, wie die Saudi Gazette</i> berichtet.

​​ "Der Mann sollte die Milch der Frau nehmen, jedoch nicht direkt aus der Brust der Frau", wurde Obeikan zitiert. "Er sollte sie trinken, wodurch er ein Familienangehöriger wird. Dies erlaubt ihm, in Kontakt mit Frauen zu kommen, was der Islam ansonsten verbietet." Nach islamischer Tradition entsteht durch das Stillen fremder Kinder ein mütterliches Verhältnis zwischen Mutter und gestilltem Kind, das die Geschlechtertrennung nicht mehr erforderlich macht.

In einem anderen Fall verbot der oberste Gelehrte des Königsreichs, Großmufti Scheich Abdul Aziz Al-Asheik, einem Prediger den Mund, weil dieser eine Fatwa gegen die Supermarktkette Panda, die Frauen als Kassiererinnen beschäftigt, veröffentlicht hatte. Die Fatwa sollte die Supermarktkette dazu bringen, 11 ihrer 16 Kassiererinnen zu versetzen. Wie der Sprecher der Kette, Tarik Ismail, mitteilte, waren sie Teil eines Pilotprojekts, bei dem Frauen angestellt wurden - in einem Land, in dem Frauen von gemischtgeschlechtlichen Arbeitsplätzen ferngehalten werden.

Der Prediger, Scheich Yousuf Ahmad, der für seinen rigiden Widerstand gegen jede Art von Kontakt zwischen den Geschlechtern bekannt ist, hatte zuvor schon vorgeschlagen, dass ausschließlich muslimische Zimmermädchen in saudischen Haushalten arbeiten sollten. Zudem hatte er gefordert, dass die Große Moschee in Mekka, die heiligste Stätte des Islam und größte Moschee der Welt, abgerissen und neu aufgebaut werden soll, um bei der Wiedererrichtung eine Trennung der Geschlechter sicherzustellen.

Im Bemühen um eine weitere Beschneidung der Macht der Gelehrten, ordnete das Ministerium für Islamische Angelegenheiten an, dass Imame ihre Freitagspredigten kurz und prägnant halten sollen. Azam Shewair, ein Beamter des Ministeriums, warnte die Gelehrten, dass sie eine Strafe erwarte, sollten sie ihre Reden nicht kürzen; als mögliche Strafen wurden eine Verpflichtung zu Weiterbildungskursen oder das Einbehalten von Gehältern genannt.

Neue Quellen der Legitimierung

Eine Debatte über die ministerielle Verordnung in der Saudi Gazette sprach von einem einen Generationenkonflikt unter den Religionsgelehrten Saudi-Arabiens, wobei die Älteren ihre Verachtung für ihre jüngeren Kollegen ausdrücken und meinen, dass es sich bei ihnen um eine Horde ungebildeten Pöbels handle, denen Manieren beigebracht werden müsse.

Pilger auf einem Markt in Medina; Foto: Wikipedia
"In der öffentlichen Meinung meldet sich eine wachsende Zahl von Menschen zu Wort, die der Ansicht sind, dass der Wahhabismus die Entwicklung eines modernen Staates, der den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sein will, behindert und den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr gerecht wird", schreibt Dorsey.

​​ "Die Wirkung einer Predigt bemisst sich nicht nach ihrer Länge, sondern nach der Eloquenz, Genauigkeit und Prägnanz ihrer Formulierungen", meint Saleh Humaid, ein ranghoher Gelehrter. "Imame sollten keine allzu blumige und bombastische Sprache verwenden und stattdessen direkt zum Kern der Predigt vordringen."

Ein anderer Gelehrter beschuldigte einige Gelehrte, ihre Freitagspredigten aus Büchern oder dem Internet zu kopieren, wobei sie diese zwar laut vorlesen, aber den Sinn der Worte gar nicht verstehen würden. Andere wiederum meinen, dass die Gelehrten an ihrem Stil zu arbeiten hätten: "Einige redeten langatmig über ein Thema, indem sie sich ständig wiederholen und sich im Kreis bewegen", sagte Ahmad Mawrai der Saudi Gazette. "In vielen Fällen springen sie von einem Gegenstand zum nächsten. Das macht ihre Predigten so anstrengend und ermüdend."

Die Diskussion über die Fatwa-Regeln spricht dafür, dass die Unterstützung für König Abdullah wächst. Auch in der öffentlichen Meinung meldet sich eine wachsende Zahl von Menschen zu Wort, die der Ansicht sind, dass der Wahhabismus, die dogmatische Form des Islam, die in Saudi-Arabien Staatsreligion ist, die Entwicklung eines modernen Staates, der den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sein will, behindert und den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr gerecht wird.

Vor fünf Jahren wären solche bizarren und obskuren Fatwas ernsthaft diskutiert und nicht lächerlich gemacht und verurteilt worden.

Viele saudische Gelehrte müssen noch erkennen, dass die von Abdullah in die Wege geleiteten Reformen ihnen die Chance bieten, ihren Einfluss zu festigen. Zurzeit scheint es ihnen eher darum zu gehen, sich in Debatten zu verlieren, die ihre öffentliche Glaubwürdigkeit unterminieren und letztendlich auch vom Niedergang ihrer Macht in Saudi-Arabien künden könnten.

Doch dadurch könnte das Königshaus Saud geneigt sein, nicht mehr auf ihre historische Bindung an den Wahhabismus zu setzen, sondern nach neuen Quellen der Legitimierung zu suchen.

James M. Dorsey

© Qantara.de 2010

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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