"Juden und Muslime respektieren einander"

Israel und Iran gelten offiziell als Todfeinde. Doch in der Islamischen Republik lebt bis heute die zweitgrößte jüdische Gemeinde im Nahen Osten. Für Siamak Morsadegh, Direktor des „Tehran Jewish Committees“, ist das kein Widerspruch. Mit ihm hat sich Theresa Tropper unterhalten.

Von Theresa Tropper

Wie lebt es sich als Jude in der Islamischen Republik?

Siamak Morsadegh: Viel besser als die meisten Leute denken. Juden sind hier eine anerkannte Minderheit, wir können unsere Religion also frei ausüben. Es gibt mehr als 20 aktive Synagogen allein in Teheran und mehr als fünf koschere Metzgereien. In manchen europäischen Ländern ist das nicht erlaubt, wegen des Tierschutzes. Hier schon. Generell kann man sagen, dass es den Juden hier im Iran immer besser ging als denen in Europa. In der Geschichte unseres Landes gab es nämlich keinen einzigen Tag, an dem alle Iraner die gleiche Religion, die gleiche Rasse oder die gleiche Sprache hatten – das erklärt die große Toleranz. Juden und Muslime respektieren einander, wissen aber auch, dass es Unterschiede gibt. Ehen zwischen Juden und Angehörigen anderer Religionen sind deshalb im Iran sehr selten, die Quote liegt bei weniger als 0,1 Prozent.

Heißt das, dass Juden im Iran zwar am gleichen Ort leben wie andere religiöse Gruppen, aber von ihnen getrennt?

Morsadegh: Im Gegenteil. Wir haben sehr enge wirtschaftliche Beziehungen zu Muslimen, meine engsten Freunde sind Muslime. Das Krankenhaus, in dem ich arbeite, ist ein jüdisches – aber mehr als 95 Prozent unserer Angestellten und unserer Patienten sind Muslime. Es ist dort streng verboten, nach der Religion zu fragen. Denn der wichtigste Vers der Torah, der über unserer Tür geschrieben steht, besagt: 'Behandele andere Menschen wie dich selbst'. Es heißt nicht 'andere Juden', sondern 'andere Menschen'. Dass zeigt, dass wir eine praktische Beziehung zueinander haben und zusammenarbeiten, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Juden haben vor dem iranischen Gesetz aber nicht die gleichen Rechte – zum Beispiel dürfen sie keine Richter sein oder hohe politische Ämter bekleiden. Stört Sie das nicht?

Siamak Morsadegh ist Arzt, Parlamentsabgeordneter und Direktor des "Tehran Jewish Committees"; Foto: DW
"Generell kann man sagen, dass es den Juden hier im Iran immer besser ging als denen in Europa. In der Geschichte unseres Landes gab es nämlich keinen einzigen Tag, an dem alle Iraner die gleiche Religion, die gleiche Rasse oder die gleiche Sprache hatten – das erklärt die große Toleranz", meint Siamak Morsadegh. Er ist Arzt, Parlamentsabgeordneter und Direktor des "Tehran Jewish Committees".

Morsadegh: Natürlich verursacht die Tatsache, dass wir eine religiöse Minderheit sind, einige Probleme. Wegen der Wirtschaftskrise hier im Iran haben viele Menschen Schwierigkeiten, einen Job zu finden – und für Juden gilt das ganz besonders, weil die Gesetze für uns einige Einschränkungen vorsehen. So dürfen wir zum Beispiel nicht als Offiziere in der Armee arbeiten, sondern nur als einfache Soldaten. Wir tun unser Bestes, um das zu ändern. Das ist ein schrittweiser Prozess, der nicht über Nacht geschehen kann, aber wir machen Fortschritte. Einer unserer größten Erfolge der vergangenen Jahre war es, dass jüdische Kinder die öffentliche Schulen besuchen, am Samstag zuhause bleiben dürfen, wenn sie den Sabbat einhalten wollen – und das wollen viele, weil die meisten Juden hier im Iran orthodox sind.

Nach der Islamischen Revolution von 1979 haben viele iranische Juden das Land verlassen. Sie nicht. Warum?

Morsadegh: Damals sind viele Iraner gegangen, auch viele Muslime. Ich bin Iraner – ich bete zwar auf Hebräisch und kann Englisch sprechen, aber denken kann ich nur auf Persisch. Meiner Meinung nach gibt es einen großen Unterschied zwischen Religion und Nationalität und beide stehen nicht im Gegensatz zueinander. Ins Ausland zu gehen – und vor allem nach Israel zu gehen – ist für mich keine Option. Die Vorstellung, dass alle Juden an einem Ort leben sollten, würde bedeuten, dass wir anders sind als andere Menschen. Das sind wir meiner Meinung nach aber nicht – wir sind gleich.

Im Iran ist es gesetzlich verboten, Kontakte nach Israel zu haben. Ist das für Sie als Jude nicht schwer?

Morsadegh: Unsere Religion schreibt uns vor, dass wir uns an die Gesetze des Landes halten sollen, in dem wir leben. Und ein Jude zu sein ist etwas völlig anderes, als ein Zionist zu sein. Es gibt und gab immer schon Juden auf der ganzen Welt, die dem Verhalten der israelischen Regierung und Armee sehr kritisch gegenüber stehen. Jude zu sein heißt, Torah und Talmut zu befolgen. In andere Länder einzumarschieren und unschuldige Menschen zu töten, gehört nicht zu Moses' Lehre. Wir können das Verhalten Israels nicht als jüdisches Verhalten akzeptieren - es ist keine religiöse, sondern eine politische Bewegung. Ich persönlich denke, dass wir als Opfer des schlimmsten Genozids der Welt mehr Mitgefühl haben sollten mit den Menschen in Palästina.

Genau dieser Genozid hat vor einigen Jahren eine große Kontroverse verursacht. Wie sind die iranischen Juden mit der öffentlichen Leugnung des Holocausts durch den damaligen Präsident Ahmadinedschad umgegangen?

Morsadegh: Wir haben das Verhalten von Präsident Ahmadinedschad nicht gutgeheißen und das haben wir ihm auch gesagt. Er hat den Holocaust zwar nicht direkt verleugnet, aber er hat ihn in Frage gestellt – und selbst das kann ich nicht akzeptieren. Es macht keinen Sinn, etwas in Frage zu stellen, das so völlig klar und auf der ganzen Welt anerkannt ist. Auf unser tägliches Leben hatte das aber keinen Einfluss. Die finanzielle Unterstützung für das Jüdische Krankenhaus etwa nahm während seiner Amtszeit ihren Anfang. Ahmadinedschad war antiisraelisch, nicht antisemitisch. Außerdem wird die generelle Politik im Iran ohnehin nicht vom Präsidenten gemacht, sondern vom Obersten Führer – und zwar im Rahmen der Verfassung.

Der Präsident hat aber trotz allem großen Einfluss und wird am Freitag neu gewählt. Was steht für die iranischen Juden auf dem Spiel?

Morsadegh: Die iranischen Juden haben keinen speziellen Kandidaten, den sie unterstützen. Es geht bei dieser Wahl vor allem um die Wirtschaft. Der Kandidat, der die beste Lösung für die Wirtschaftskrise unseres Landes anbietet, wird gewinnen. Abgesehen davon macht es für uns als Juden keinen Unterschied, wer gewinnt. Wir sind iranische Staatsbürger und jeder, der gewählt wird, muss sich an die Verfassung halten.

Das Gespräch führte Theresa Tropper.

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