Strategie der schleichenden Aneignung

Die Nichtregierungsorganisation B'Tselem untersucht vom israelischen Militär verursachte Menschenrechtsverstöße in den palästinensischen Gebieten. Im Gespräch mit Kai Schnier erklärt Sprecherin Sarit Michaeli, warum eine friedliche Beilegung des Nahostkonflikts mit jedem Tag unwahrscheinlicher wird und weder die israelische Politik noch die Generäle an Deeskalation interessiert sind.

Von Kai Schnier

Frau Michaeli, mit Schimon Peres ist vor Kurzem ein israelischer Staatsmann gestorben, der sich zeitlebens für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts eingesetzt hat. Bis zuletzt stritt der Friedensnobelpreisträger für eine Zweistaatenlösung. Wie wahrscheinlich ist es, dass Peres' Wunsch posthum in Erfüllung geht?

Sarit Michaeli: Hält man sich strikt an die öffentlichen Aussagen von Premierminister Benjamin Netanjahu, dann ist eine Zweistaatenlösung weiterhin das erklärte politische Ziel der israelischen Regierung. Redet man allerdings unter vier Augen mit Ministern und Knesset-Abgeordneten, dann stellt man fest, dass eine solche Lösung eigentlich längst vom Tisch ist. Das vermeintliche Interesse an einem israelisch-palästinensischen Versöhnungsprozess ist mittlerweile nur noch ein Lippenbekenntnis.

Woran machen Sie das fest?

Michaeli: Eine grundlegende Voraussetzung für eine Zweistaatenlösung wäre es, ein zusammenhängendes palästinensisches Staatsgebiet im Westjordanland zu schaffen. Fakt ist aber, dass die israelische Politik aktiv daran arbeitet, selbst dieses Minimalziel zu untergraben. Heute leben zwischen 650.000 und 700.000 israelische Siedler jenseits der festgelegten Außengrenzen Israels. Die Besetzung der Palästinensergebiete bleibt nicht nur bestehen, sie schreitet täglich voran. In einem schleichenden Prozess hat sich Israel mittlerweile rund zwanzig Prozent des Westjordanlands angeeignet. Durch den Bau eines Netzwerks aus Straßen, Zäunen und Checkpoints hat man palästinensische Siedlungsgebiete voneinander abgeschnitten und die eigene militärische Kontrolle sukzessiv ausgeweitet.

Ihre Menschenrechtsorganisation B'Tselem kritisiert diese Politik scharf und wirft der israelischen Regierung vor, damit gegen internationales Recht zu verstoßen.

Michaeli: Es ist offensichtlich, dass die Siedlungspolitik Israels mit dem humanitären Völkerrecht nicht zu vereinbaren ist. Die große Raffinesse ist es, dass man es über Jahrzehnte vermocht hat, die internationale Gemeinschaft bezüglich dieser Thematik an dem Nasenring durch die Manege zu führen. Stellen Sie sich vor, die Besatzung des Westjordanlandes wäre nicht schrittweise, sondern auf einen Schlag umgesetzt worden. Von einem Tag auf den anderen wären Hunderttausende Siedler in die palästinensischen Gebiete gezogen, hätten unter Duldung und dem Schutz der israelischen Streitkräfte die Ressourcen vor Ort – Wasser, Steinbrüche, Weideflächen – für sich beansprucht und de facto alle mit den Palästinensern getroffenen Friedensvereinbarungen gebrochen. Jetzt stellen Sie sich den Aufschrei vor, den das nach sich gezogen hätte. Die israelische Regierung hält sich nicht an internationale Vereinbarungen, und sie bricht sie auf die schlauste aller Arten: langsam und stetig.

Siedlung Givat Zeev nahe der Westbank-Stadt Ramallah; Foto: Getty Images/AFP/T. Coex
Sukzessiver Siedlungsausbau: Nach Angaben israelischer Aktivisten hat die israelische Regierung kürzlich erneut grünes Licht für den Bau von 98 Wohnungen nahe Ramallah gegeben. Insgesamt seien bis zu 300 Wohnungen geplant. Die Ansiedlung der eigenen Zivilbevölkerung in militärisch besetzten Gebieten, wie Israel sie seit 1967 systematisch im Westjordanland betreibt, wird von der UNO mit Verweis auf die IV. Genfer Konvention als völkerrechtswidrig erachtet. Die internationale Staatengemeinschaft betrachtet den fortschreitenden Siedlungsausbau als ein Haupthindernis für den Nahostfrieden.

Mit dieser Haltung machen Sie sich sowohl bei der Regierung als auch bei den israelischen Streitkräften unbeliebt. Aus Militärkreisen wurden Sie jüngst bezichtigt, eine Schmutzkampagne gegen die Armee zu führen, Ihre Arbeit bezeichneten hochrangige Generäle als "unprofessionell und extrem voreingenommen".

Michaeli: Das war eine Reaktion auf unsere Berichterstattung zur Operation "Protective Edge", einer Militäroffensive, die israelische Streitkräfte im Sommer 2014 im Gazastreifen durchgeführt haben. Es ist nicht überraschend, dass man uns in diesem Fall mit so scharfen Worten entgegentritt. Die Ergebnisse unserer aktuellsten Recherchen sind ein Armutszeugnis für die israelische Politik und für die Streitkräfte. Im Zuge der Kampfhandlungen wurden 2.200 Palästinenser getötet. 63 Prozent der Opfer, also rund 1.400 Menschen, waren Zivilisten – und darunter waren wiederum mehr als 500 Minderjährige.

Die Militäroperation begann als Antwort auf den vermehrten Raketenbeschuss Israels durch militante palästinensische Gruppen wie die Hamas. Darf man diesen Umstand einfach ausklammern?

Michaeli: B'Tselem bestreitet nicht, dass israelische Militäroperationen oft durch Raketenbeschüsse oder Attentate provoziert werden. Wir sind aber eine Organisation, die von Israel verursachte Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten dokumentiert – und solche Verstöße sind nun mal nicht gegeneinander aufzuwiegen. Die Armee argumentiert gerne damit, dass sie ausschließlich Häuser zerstört, in denen militante Gruppen Unterschlupf suchen. Ohne dass sich eine direkte Gefahr nachweisen lässt, ist die Bombardierung von Wohnhäusern trotzdem nur schwer mit den Genfer Konventionen zu vereinbaren. Und selbst wenn eine unmittelbare Bedrohung bestünde, müsste noch immer abgewogen werden, ob solche Luftangriffe, in denen ganze Familien ums Leben kommen, militärisch angemessen sind. In einem Vorfall, der mittlerweile als "Black Friday" bekannt ist, tötete das israelische Militär in Rafah, der südlichsten Stadt des Gazastreifens, im August 2014 innerhalb von 24 Stunden mehr als 150 Zivilisten. Das sollte uns zu denken geben. 

Bislang hat B'Tselem solche Verstöße bei dem Generalanwalt der israelischen Streitkräfte, Sharon Afek, gemeldet. Seit Mitte dieses Jahres haben Sie die Zusammenarbeit eingestellt. Warum?

Michaeli: Uns ist klar geworden, dass die Zusammenarbeit keinen Zweck hat. Ich gebe ihnen ein Beispiel: Vor einigen Jahren haben wir uns gegen die sogenannte Administrativhaft stark gemacht, eine Praxis bei der Palästinenser vom israelischen Staat ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren inhaftiert werden. Nach einem zwischenzeitlichen Rückgang dieser Verhaftungen sind heute wieder 700 Palästinenser hinter Gittern. Unsere Anstrengungen haben sich in Wohlgefallen aufgelöst. Ähnliches galt für unsere Kritik an der Operation "Protective Edge". Bis heute – zwei Jahre nach dem Ende der Kampfhandlungen – hat der Generalanwalt nur einen Prozess zu Ende geführt: Drei Soldaten wurden verurteilt, weil sie in Gaza geplündert haben. In Hinblick auf die Vorfälle in Rafah wurde noch immer kein Verfahren aufgenommen.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Michaeli: Die Erklärung für die Untätigkeit des Generalanwalts ist simpel. Im Prinzip würde er sich selbst anklagen müssen, weil sein Büro die Militäroperationen im Vornherein erst absegnet. Im aktuellen Rechtssystem sind wir also darauf angewiesen, dass sich die Personen, die für die Koordination der Besatzungspolitik und der Kampfeinsätze verantwortlich sind, selbst zur Rechenschaft ziehen. Zudem ist mit Avigdor Lieberman seit einiger Zeit ein Verteidigungsminister im Amt, der sich – und das ist sehr diplomatisch ausgedrückt – nicht gerade durch seinVerantwortungsbewusstsein auszeichnet. Jede Arbeitsstunde, die wir investieren, um auf diesem Weg für Gerechtigkeit zu sorgen, ist verschwendet.

Wie werden Sie nun weitermachen?

Michaeli: Wir werden unsere Kräfte sammeln und uns in Zukunft verstärkt darum bemühen, mit ausführlicheren Berichten an die Öffentlichkeit zu gehen. Statt unsere Informationen an den Generalanwalt zu übergeben, werden wir sie in noch größerem Umfang im Internet zur Verfügung stellen. Gleichzeitig hoffen wir natürlich weiterhin, dass die Regierung und das Militär eigene Untersuchungen aufnehmen. Vielleicht hilft es, dass die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Fatou Bensouda, im letzten Jahr vorläufige Ermittlungen zur Situation in Palästina aufgenommen hat. Ich denke aber, das wird ein frommer Wunsch bleiben. Auch und vor allem, weil die internationale Gemeinschaft die israelische Politik zwar seit einiger Zeit schärfer verurteilt, aber ihren Worten nie Taten folgen lässt.

Glauben Sie vor diesem Hintergrund noch an eine friedliche Beilegung des Nahostkonflikts oder zumindest an einen Teilerfolg im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen auf palästinensischem Boden?

Michaeli: Ich würde Ihnen gerne eine zuversichtliche Antwort geben. Stattdessen erzähle ich Ihnen von drei Vorfällen, die sich in den letzten Wochen zugetragen haben. In der Stadt Nablus zündeten israelische Soldaten ohne Grund ein Brennholzlager an und verursachten einen Schaden von 40.000 Euro. In Hebron warf ein Einsatzkommando aus Langeweile eine Tränengasgranate in die Umkleidekabine einer palästinensischen Fußballmannschaft. Und erst vor Kurzem tauchte Videomaterial auf, das zeigt, wie eine Gruppe palästinensischer Passanten ohne Vorwarnung aus einem Militärjeep mit einer Blendgranate attackiert wird. All diese Vorfälle stehen sinnbildlich für einen gewissen Zeitgeist. Dieser Zeitgeist ist das Resultat einer Verrohung innerhalb der israelischen Gesellschaft und einer immer rücksichtsloseren Politik und er lässt nicht auf ein baldiges Ende des Konflikts schließen.

Das Interview führte Kai Schnier.

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