Die Fragmentierung der arabischen Welt

Der palästinensisch-jordanische Politikwissenschaftler und Publizist Rami G. Khouri sieht Zusammenhänge zwischen dem zunehmenden religiösen Fanatismus und dem Wiedererstarken der alten Eliten nach der Arabellion. Im Interview mit Juliane Metzker blickt er auf vier Jahre Transformation, Stagnation und Instabilität in den arabischen Staaten zurück.

Von Juliane Metzker

Herr Khouri, was bedeutete das Jahr 2011 für die moderne arabische Geschichte?

Rami G. Khouri: Für den Großteil der Araber markierte dieses Jahr einen historischen Wendepunkt. Ihr Aufbegehren war spontan und dramatisch. Millionen von einfachen Menschen waren es leid, weiterhin unter denselben, erdrückenden Umständen zu leben. Sie wehrten sich gegen wirtschaftliche Benachteiligung und politische Ausgrenzung unter den autokratisch-militärischen Regimen.

In Tunesien verlief die demokratische Transformation erfolgreich. Zum ersten Mal überhaupt in der modernen arabischen Geschichte sahen wir, wie das Leben, die Politik und die Bürgerrechte in einem alternativen System entstehen, das auf Rechtsstaatlichkeit und demokratischem Pluralismus basiert. Nichts wurde kopiert oder von außen übernommen. Ich denke, dass die meisten Araber das Konzept der tunesischen Demokratie auch für ihre Länder haben wollen und weiterhin dafür kämpfen werden.

In anderen Ländern scheiterten die Aufstände. Was hat die arabische Gesellschaft daraus gelernt?

Khouri: Es ist schwer, nur von einer arabischen Gesellschaft zu sprechen. Es gibt über 360 Millionen Araber, die unter verschiedensten Bedingungen leben. Aber es gibt einige allgemeine Lektionen, die insbesondere die politisch engagierten Araber gelernt haben: Man braucht Institutionen für einen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel. Man kann nicht einfach auf die Straße gehen, sein Banner hochhalten und damit ein Regime stürzen. Es muss einen Konsens im Land darüber geben, welche Rolle die Regierung, die Armee, die Zivilgesellschaft und die Religion spielt.

Demonstrant in Kairo demonstriert gegen die Herrschaft der Militärs nach der Absetzung Mohammed Mursis; Foto: picture-alliance/AP Photo/Khalil Hamra
Zerplatzte Hoffnung vom Arabischen Frühling: "Man braucht Institutionen für einen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel. Man kann nicht einfach auf die Straße gehen, sein Banner hochhalten und damit ein Regime stürzen. Es muss einen Konsens im Land geben darüber, welche Rolle die Regierung, die Armee, die Zivilgesellschaft und die Religion spielt", sagt Rami G. Khouri.

Sind die Umbrüche denn daran gescheitert, dass die Menschen zu ungeduldig waren?

Khouri: Das trifft in einigen Fällen zu. Eine Transformation gelingt nicht im Schnelldurchlauf. Wer zu rasch Wahlen durchführt, läuft Gefahr, eine politische Polarisierung zu fördern. Das ist in Ägypten und Libyen passiert. Nur in Tunesien hat man sich mehr Zeit gelassen und klare Regeln formuliert. Das zeigt, dass eine Demokratie nicht von heute auf morgen entstehen kann.

Was setze die Gewaltspirale in Gang, die auf die friedlichen Demonstrationen im Frühjahr 2011 folgte?

Khouri: Einer der Hauptgründe für das Abgleiten von einem halben Dutzend arabischer Staaten in Gewalt, Chaos und Fragmentierung war, dass die alten Eliten, die von den Aufständen im Frühjahr 2011 überrascht worden waren, wieder Boden unter den Füßen bekamen und bösartig zurückschlugen. Einige arabische Regierungen und ausländische Mächte schickten dafür Waffen und Geld. Mit dem Rücken zur Wand schlugen die alten Eliten gnadenlos zurück und töten alles und jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Angst machte sich unter Millionen von Menschen breit, die nicht aus ihren Ländern flohen und ihr Leben deshalb riskierten. Genau diese Angst verwandelte viele einfache Bürger in fanatische Maschinen, die dann oft vor dem Hintergrund ihrer konfessionellen Identität zu töten begannen.

Ist der Vormarsch des sogenannten Islamischen Staates letztlich auf die gescheiterte Arabellion zurückzuführen?

Khouri: Das Chaos nach den gescheiterten Aufständen in Syrien und Irak hat den Fundamentalisten vielleicht ermöglicht, ihre Stützpunkte dort schneller zu errichten. Das Scheitern selbst war aber sicher nicht der Grund dafür, das Gruppen wie der "Islamische Staat" entstanden sind. Diese Bewegung begann ihre Aktivitäten bereits vier bis fünf Jahre vor den Aufständen in der arabischen Welt. Infolge der amerikanisch-britischen Invasion im Irak von 2003 herrschte Chaos im Land. Deshalb konnte auch der Al-Qaida-Terrorist Abu Musab al-Zarqawi dort einen Vorläufer des "Islamischen Staates" gründen: den sogenannten "Islamischen Staat in Mesopotamien". Es war also der Krieg im Irak, der den perfekten Nährboden für den Aufstieg radikaler Islamisten schuf, wobei die fundamentalistische Ideologie mit dem Al-Qaida-Terrornetzwerk schon lange vorher existierte.

Saddam-Statue vor dem brennenden Irakischen Olympischen Komitee in Bagdad am 9. April 2003; Foto: AFP/picture-alliance
Krieg und Chaos als Wegbereiter des islamischen Extremismus an Euphrat und Tigris: "Es war der Krieg im Irak im Jahr 2003, der den perfekten Nährboden für den Aufstieg radikaler Islamisten schuf, wobei die fundamentalistische Ideologie mit dem Al-Qaida-Terrornetzwerk schon lange vorher existierte", sagt Khouri.

Welche Strategie verfolgt der "Islamische Staat"?

Khouri: Der "Islamische Staat" will einen offenen Krieg. Auch Osama Bin Laden verfolgte diese Strategie. Das Bild, was sie nach außen und innen hin projizieren, ist folgendes: Sie behaupten, dass sie einen authentischen, islamischen Staat aufbauen. Doch westliche und arabische Staaten – die "Ungläubigen" – wollen das verhindern und attackieren sie. Das heißt, dass diese Extremisten bis zu einem gewissen Grad geradezu frohlocken über die Luftangriffe gegen ihre Stellungen. Denn so können sie ihren Heiligen Krieg rechtfertigen.

Der internationale Kampf gegen den "Islamischen Staat" geht nur sehr schleppend voran. Erst nach den Hinrichtungsvideos des jordanischen Piloten und 21 ägyptischer Kopten, flogen Jordanien und Ägypten intensivere Luftangriffe auf deren Stellungen. Müssen die arabischen Staaten aber nicht noch massiver eingreifen?

Khouri: Es wird nicht gelingen, den "Islamischen Staat" alleine militärisch besiegen zu wollen. Denn wie Al-Qaida sind ihre Methoden nicht konventionell. Ein Kämpfer könnte abends eine Bombe legen und am nächsten Tag ganz normal zu seiner Arbeitsstelle gehen. Natürlich waren die ägyptischen und jordanischen Luftangriffe als Reaktion auf die Hinrichtungen nachvollziehbar. Dennoch sehe ich gerade im Falle Ägyptens ein wesentliches Problem: Dort sitzen zum jetzigen Zeitpunkt bis zu 20.000 politische Gefangene ein, die keine wirklichen Kriminellen sind. Vor allem das gnadenlose Vorgehen der ägyptischen Regierung gegen den politischen Islam könnte dem "Islamischen Staat" in die Hände spielen. Denn die finden neue Rekruten überall dort – in den Gefängnissen oder in zerbombten Städten – wo junge Männer mit einer betäubenden, hoffnungslosen Realität konfrontiert sind.

Der "Islamische Staat" rekrutiert vor allem in Syrien. In den internationalen Medien wird auch deshalb schon länger gemutmaßt, dass dem Assad-Regime eine Rehabilitation bevorstehen könnte, um die internationale Allianz im Kampf gegen die Extremisten zu unterstützen. Was glauben Sie?

Inhaftierte Muslimbrüder während eines Prozesses in Kairo; Foto: Reuters/M. Abd El Ghany
Mit aller Härte gegen die islamistische Opposition am Nil: Seit Mursis Entmachtung geht die autoritäre Regierung unter Abdel Fattah al-Sisi massiv gegen dessen Anhänger sowie die Muslimbruderschaft vor. Immer wieder wurden in den vergangenen Monaten in international kritisierten Schnellprozessen zahlreiche Muslimbrüder zum Tod verurteilt. Erst vor wenigen Tagen hatte die ägyptische Justiz 22 Anhänger des gestürzten islamistischen Präsidenten zum Tod verurteilt.

Khouri: Ich finde nicht, dass die alten Eliten rehabilitiert werden sollten. Sie sind einer der Hauptgründe für die gegenwärtige Situation in der arabischen Welt. Sie müssten radikal umdenken, wie etwa im Falle des tunesischen Präsidenten Béji Caid Essebsi. Aber für die meisten gibt es kein Zurück. Sie sollten abgesetzt werden und sich vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte für ihre Gräueltaten verantworten. Die alten Eliten sind neben dem "Islamischen Staat" und anderen radikal-islamistischen Gruppen zwar nicht mehr die einzigen Akteure, die Gewalt im großen Stil ausüben. Doch das darf ihren Ruf nicht aufpolieren.Assad hat keine Zukunft in Syrien. Sein Regime besteht aus gerade einmal 150.000 Soldaten und den alten Geheimdiensten, die nur noch ein Drittel des Landes kontrollieren. Und Assad konnte sich auch nur bis heute in Damaskus halten, weil er von der libanesischen Hisbollah, Iran und Russland gestützt wird. Rein theoretisch ist er nicht mehr der syrische Präsident und man sollte ihn auf keinen Fall rehabilitieren.

Neben Brandherden wie Syrien und Irak gibt es aber auch arabische Staaten, die in den letzten vier Jahren von Revolutionen und Krieg im eigenen Land verschont blieben – allen voran Saudi-Arabien. Wird das saudische Königreich auch in Zukunft ein Hort der Stabilität in der Region bleiben?

Khouri: Saudi-Arabien ist einzigartig. Die saudische Politik ist seit vielen Jahren bemerkenswert stabil. Auch der neue König Salam wird das Land gewohnt konservativ regieren. Vielleicht nimmt er ein paar minimale politische Veränderungen im nächsten halben Jahr vor. Er hat bereits einige Amtsträger ausgetauscht. Doch ich glaube nicht, dass die Politik in Saudi-Arabien von einzelnen Personen abhängt. Sie fußt auf einem Konsens der Königsfamilie und einiger Technokraten. Innenpolitisch wird sich in Saudi-Arabien so schnell nichts ändern.

Muss sich Saudi-Arabien regionalpolitisch neu positionieren?

Khouri: Der traditionelle saudische Stil diskreter Aktion und indirekter Intervention in regionalen Angelegenheiten hat kaum Aussicht auf Erfolg in Anbetracht der turbulenten Veränderungen in der arabischen Welt. Das hat Saudi-Arabien begriffen und handelt nun viel offensiver. Es sendet beispielsweise Geld an das Sisi-Regime. Und nicht zu vergessen ist, dass die saudische Armee 2011 in Bahrain einmarschierte, um die Aufstände dort zu beenden. Das zeigt, wie groß die Sorge des saudischen Königshauses vor einem Wandel in der Region ist. Es hat Angst vor populären Revolutionen, gewählten Muslimbrüdern und demokratischer Transformation in den arabischen Ländern. Also beteiligt es sich aktiver, um diese Prozesse zu entschleunigen oder gleich ganz zu verhindern.

Syriens Präsident Baschar al-Assad; Foto: Reuters
Politisch isoliert, militärisch geschwächt: "Assad hat keine Zukunft in Syrien. Sein Regime besteht aus gerade einmal 150.000 Soldaten und den alten Geheimdiensten, die nur noch ein Drittel des Landes kontrollieren. Und Assad konnte sich auch nur bis heute in Damaskus halten, weil er von der libanesischen Hisbollah, Iran und Russland gestützt wird. Rein theoretisch ist er nicht mehr der syrische Präsident", meint Khouri.

Gewaltakteure wie der "Islamische Staat", Al-Qaida in der arabischen Peninsula und viele andere radikal-islamistische Gruppen reagieren auch nicht auf saudische Strategien der Vermittlung und Entwicklungshilfe, um die Konflikte in der Region beizulegen. Die neuen konfessionsgebundenen regionalen und lokalen Spannungen sind eine weitere große Herausforderung, die Saudi-Arabien nicht ignorieren kann – besonders in seiner Rolle als Hüter des sunnitischen Islams und der heiligen Stätten wie Mekka.

Eine der größten Sorgen Saudi-Arabiens bleibt der Einfluss des Irans in der Region, der das syrische Regime und die verbündete Hisbollah-Miliz unterstützt. Die Saudis wiederum finanzieren die größtenteils sunnitischen Rebellen in Syrien. Welche Konsequenzen hat diese Rivalität der beiden regionalen Großmächte?

Khouri: Saudi-Arabien und der Iran sind zwei einflussreiche Golfmächte. Dennoch verstehe ich nicht, warum das Verhältnis zwischen den beiden Ländern so angespannt ist, denn sie bedrohen einander nicht direkt. Sie konkurrieren in erster Linie ideologisch miteinander. Es geht ihnen darum, Verbündete zu finden, die wie sie denken. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Iran in der Vergangenheit eine revolutionär-islamische Macht verkörperte und Saudi-Arabien eine konservativ-islamische Macht darstellt.

Es braucht sensiblere Staatsmänner, die sich an einen Tisch setzen und deeskalierende Strategien entwickeln. Denn es ist offensichtlich, dass die Saudis die iranische Unterstützung der Hisbollah, Hamas und des syrischen Regimes als Bedrohung sehen. Deshalb finanzieren beide auch die Stellvertreterkriege in Syrien und Irak, was eine Verschwendung von Menschenleben und Geld ist. Und wir alle sind Idioten, dass wir so etwas geschehen lassen. Denn wir haben gesehen, dass die Konsequenz dieser Kriege nur Chaos und Wahnsinn ist.

Das Interview führte Juliane Metzker.

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