"Die Verwandlung in ein Assad-Königreich"

Das Überlebenskonzept Assads ist einfach: der Machterhalt des eigenen Clans um jeden Preis. Die Unentschlossenheit des Westens im Umgang mit dem Regime baut ihn noch weiter auf. Der namhafte syrische Schriftsteller Rafik Schami kritisiert im Gespräch mit Eren Güvercin, dass keine Regierung in Europa eine differenzierte Syrien-Politik vertrete.

Von Eren Güvercin

Herr Schami, hat der Westen in Syrien versagt?

Rafik Schami: Nein, der Westen nicht, aber seine Werte für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Wenn man "Westen" sagt, meint man die Regierungen, die nach wie vor beste Geschäfte mit allen Seiten tätigen. Die Heuchelei geht also weiter. Die Menschen im Westen haben in Europa, wo immer ich sie traf, Haltung gezeigt, aber diese Haltung ob für oder gegen das Regime bleibt letztlich ohnmächtig. Die Regierungen richten widersprüchliche Erklärungen an die Öffentlichkeit. Sie scheinen unschlüssig, verwirrt, unentschlossen, doch insgeheim arbeiten sie weiterhin eindeutig und konsequent mit dem Regime zusammen. Russland wird gerne als Buhmann dargestellt. Doch kann ein seriöser amerikanischer, deutscher oder britischer Politiker wirklich einen Eid ablegen, dass seine Geheimdienste bis heute nicht Hand in Hand mit Assad zusammenarbeiten?

Warum wird über die politische Situation in der Ukraine und in der Türkei momentan so detailliert berichtet, während Syrien nur noch ein Randthema ist? Welchen Stellenwert haben für die westliche Staatengemeinschaft noch Demokratie und Menschenrechte?

Schami: Ich kann überhaupt keinen Unterschied in den Positionen der westlichen Regierungen ausfindig machen. Die Ukraine wird womöglich bald dasselbe Schicksal erfahren wie Syrien oder wie damals Vietnam und Chile. Sobald sich die Supermächte im Hintergrund auf eine Position einigen, wird das anfängliche Interesse fallen gelassen. Wir haben leider in ganz Europa keinen einzigen Politiker, der Format für eine differenzierte Syrien-Politik zeigt und sich gegen das "Trio Infernale" China-Russland-Amerika wendet. Erst heute kann man die Studentenrevolte der 1960er Jahre in ihrer historischen Dimension würdigen. Bei aller Schwäche und dem späteren Opportunismus ihrer charismatischen Führer, hat die Studentenbewegung es letztlich verhindert, dass die Vietnamesen isoliert und vernichtet wurden, so wie es die US-Präsidenten Johnson und Nixon ja vor hatten.

Am Anfang dachten viele Beobachter, dass Assad sich nicht lange an der Macht halten würde. Aber er scheint fester denn je zuvor im Sattel zu sitzen. Wie erklären Sie sich das?

Ahmed Al-Jarba vom Nationalrat Syrien während eines Treffens mit US-Präsident Obama im Weißen Haus; Foto: picture-alliance/AA
Keine einheitliche Front gegen das Assad-Regime: "Syriens Opposition ist zerstritten. Sie eint lediglich der Wunsch, den Assad-Clan aus dem Land zu jagen. Doch geht es um die Frage der zukünftigen syrischen Gesellschaft, ist sie in viele politische Strömungen zersplittert", meint Rafik Schami.

Schami: Ich gehörte nicht zu jenen vorschnellen Beobachtern, weil ich wusste wie solide Assads Herrschaftssystem aufgebaut worden ist. Vierzig Jahre lang haben Vater und Sohn daran gearbeitet. Und beide wussten, wie sie mit Ost und West, Sozialisten und Islamisten, mit Hamas und Israel, mit der Hisbollah und den konservativen Christen im Libanon, mit Saudi-Arabien und dem Iran, mit der CIA und dem KGB umgehen. Und dies alles gleichzeitig. Das Rezept dafür ist dennoch sehr einfach – der Machterhalt des eigenen Clans um jeden Preis. Und das ist auch heute die Strategie von Baschar al-Assad. Er bindet lokale und internationale Kräfte, um sein Ziel zu erreichen und ist bereit, auf alles andere zu verzichten. Daher ist seine Front auch so solide – von China über den Westen bis nach Russland.

Die oppositionelle Front gegen Assad scheint dagegen alles andere als solide zu sein …

Schami: Richtig. Die Befreiung Syriens von einer Diktatur wirkt offenbar nicht so attraktiv für alle diese Akteure. Durch ein eigenständiges und freies Volk könnten in dieser geopolitisch wichtigen Region die Karten so gemischt werden, dass es für viele Mächte unangenehm wird. Auch ist die Opposition selbst zerstritten. Sie eint lediglich der Wunsch, den Assad-Clan aus dem Land zu jagen. Doch geht es um die Frage der zukünftigen syrischen Gesellschaft, ist die Opposition in viele politische Strömungen zersplittert.

Ich persönlich bevorzuge eine freiheitlich-demokratische Republik, in der Religion und Staat getrennt sind, in der das Militär sich in die Kasernen zurückzieht und sich nie wieder politische Belange einmischt, in der alle Geheimdienste aufgelöst werden, in der Frau und Mann gleiche Rechte haben, in der alle Religionsgemeinschaften und Ethnien respektiert und geschützt werden, in der Blutfehde mit der Höchststrafe geahndet wird – und nicht mit geringfügigen Strafen belegt wird, wie es heute der Fall ist, in der die Freiheit des Wortes hohen Wert einnimmt und in der niemand aufgrund seiner Meinung leiden muss. Diese Forderungen trugen die Menschen in den ersten sechs Monaten auf ihren Transparenten hoch. Doch die Welt ließ sie alleine, sie ließ es zu, dass sie zusammengeschossen wurden. Heute haben diese Forderungen keine Mehrheiten mehr unter den rivalisierenden bewaffneten Gruppen.

Bereits Ende der 1970er Jahre gab es Meldungen über Massaker an Oppositionellen durch Hafiz al-Assad. Damals war das im Westen ebenfalls kein Thema. Welche Strategie verfolgte er im Umgang mit der Opposition in Syrien, um diese faktisch auszuschalten?

Anhänger Assads jubeln während einer Wahlveranstaltung in Damaskus; Foto: REUTERS/Khaled al-Hariri
Bizarres Wahltheater: Nach offiziellen Angaben erhielt Assad trotz deutlich gesunkener Wahlbeteiligung 88,7 Prozent der Stimmen. Da in Syrien ein blutiger Bürgerkrieg herrscht und die Opposition keine eigenen Gegenkandidaten nominiert hatte, war die Wahl international als "Farce" kritisiert worden.

Schami: Der Vater Assad war kein wirklicher Stratege, sondern ein großer Taktiker, ein Verschwörer, den nur eine unterdrückte Minderheit erzeugen kann. Er weihte immer nur einen kleinen Kreis in seine Ziele ein und band sie geschickt in Aktionen und in Kämpfe der verschiedenen Fraktionen ein. Sein strategisches Ziel, die Verwandlung der Republik in ein "Assad-Königreich" blieb sein Geheimnis. Seine Maßnahmen aber mündeten immer in diese Richtung, und wer unter seinen Weggenossen im Kern der Macht aufmerksam wurde und es ablehnte, wurde sanft oder brutal ausgeschaltet. Nach dem gleichen Muster baute auch Saddam Hussein seine Macht im Irak aus, obwohl er – im Vergleich zu Hafiz al-Assad – ein recht primitiver Killer war.

Ging das ohne Hilfe vom Ausland, vom Westen?

Schami: Nein, überhaupt nicht. Im syrischen Hama fielen zwischen 20.000 bis 30.000 unschuldige Menschen seinen Säuberungen zum Opfer und der Westen schaute zu - genauso wie der Westen die wunderbare Demokratie in Chile kaltblütig im Stich gelassen hat, weil Kissinger beschloss, Salvador Allende zu beseitigen.

Die vor kurzem von Baschar al-Assad inszenierten Präsidentenwahlen sind natürlich angesichts von Zehntausenden syrischen Toten und Millionen Flüchtlingen eine Farce. Lässt sich das bürgerkriegsgeschüttelte Land langfristig überhaupt noch weiterregieren?

Schami: Die Kämpfe werden wohl noch lange weitergehen, bis Syrien völlig zerstört sein wird. Und Assad wird am Ende doch stürzen. Aber nicht nur der Wiederaufbau der Infrastruktur des Landes wird lange brauchen, sondern auch die Ruinen in unseren Seelen, um einander wieder die Hand zu reichen.

Welche Maßnahmen müssen Ihrer Meinung nach am dringendsten eingeleitet werden?

Schami: Eine sofortige und großzügige Hilfe für die syrischen Flüchtlinge, an erster Stelle eine großherzige Hilfe für die Kinder in den Flüchtlingslagern. Die Aufnahmeländer werden derzeit im Stich gelassen. Die Hilfe der UN wandert zu über 80 Prozent in die Taschen des Assad-Clans – wie das UN selbst zugibt und was wir Syrer aber schon immer wussten. Die Kinder müssen nicht massenhaft hierher gebracht werden, sondern in Syrien selbst geschützt werden. Man muss die Hilfe kontrollieren, damit sie an der richtigen Stelle ankommt. Dann müssen Schulen, Gesundheitssysteme aufgebaut werden, damit sich ein geregelter Alltag entwickelt. Das ist äußerst dringend, denn diese Kinder lernen sonst nur, um jeden Preis zu überleben.

Interview: Eren Güvercin

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren. 1971 kam er nach Deutschland, studierte Chemie und legte 1979 seine Promotion ab. Heute lebt er in Marnheim in der Pfalz. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren deutscher Sprache. Seine Werke wurden bislang in 28 Sprachen übersetzt. Seit 2002 ist Rafik Schami "Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste".