"Der Islam ist eine Religion, kein politisches Programm"

Mohammad Mojtahed Shabestari zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen schiitischen Theologen und Philosophen. Fatma Sagir hat sich mit ihm über das komplizierte Verhältnis von Staat und Religion sowie über die Auswirkungen von Zwang und Verordnung in Glaubensfragen unterhalten.

Mohamed Mojtahed Shabestari; Foto: Fatma Sagir
"Es ist ein Irrtum unter vielen Muslimen, durch das Zurückgreifen auf frühere Systeme heute überleben zu können", sagt Shabestari, einer der bedeutendsten religiösen Intellektuellen im Iran.

​​Sie waren von 1968 bis 1977 in Deutschland. Als noch niemand vom christlich-islamischen Dialog sprach, haben Sie diesen bereits praktiziert. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?

Mohammad Mojtahed Shabestari: Damals saßen wir Christen, Juden und Muslime gemeinsam in Sitzungen des interreligiösen Dialogs. Für uns Muslime war das noch neu und ein Ereignis für alle. Für mich war das beeindruckend, weil ich durch diese Begegnungen gelernt habe, dass es nicht reicht, gegenseitig die Quellen zu studieren oder etwas über den Anderen zu lesen, sondern, dass diese persönlichen Begegnungen reicher und lehrsamer sind. Ich habe gute Erinnerungen und aus diesen Erfahrungen viel gelernt.

Aus dieser Begegnung heraus sind Sie in eine sehr turbulente Zeit nach Iran gereist. Sie haben dort viel erlebt und sind geblieben. Das iranische Regime steht für das Primat der Religion über der Politik; das System kollidiert mit der westlichen Trennung von Staat und Religion. Machen Sie sich Sorgen um den Zustand der islamischen Welt?

Shabestari: Ich verstehe, was Sie meinen. Ich habe große Sorgen und Bedenken, dass in vielen Bereichen vom wissenschaftlichen bis zum politische Diskurs, der Islam als eine politische Institution verstanden wird, mehr als eine Religion. Meines Erachtens ist der Islam eine Religion in vollem Sinne, kein politisches Programm. Nein, der Islam ist eine der Weltreligionen, die den Muslimen heute politische Impulse geben können, aber das ist nicht nur der Islam, der die politischen Impulse geben kann, sondern auch das Christentum oder Judentum.

Ich betrachte den Islam als eine Religion mit vielen Dimensionen, mystischer, religiöser, künstlicher, philosophischer und rechtswissenschaftlicher Art und so weiter. Diese Religion kann auch Impulse für die Begründung eines gerechten demokratischen Staates geben, aber dass diese Religion ein politisches Programm sei, das ist für mich unverständlich.

Woran liegt es dann, dass aber genau das – also der vom Koran abgeleitete Wunsch nach islamischen Staatswesen – von großen Teilen der islamischen Welt geteilt und auch im Westen so rezipiert wird?

Shabestari: Diese Auffassung kommt möglicherweise dadurch, dass die islamischen Länder nach der Erfahrung des Kolonialismus bestrebt waren, sich zu modernisieren. Weil dies aber gescheitert ist, haben einige die Idee verfolgt, um die eigene Identität zu bewahren, solle man wieder zurück zu den Wurzeln, zurück zur Vergangenheit, damit wir uns in dieser konfliktvollen Welt schützen können. Aber diese Denkweise lehne ich ab.

Wenn diese Art des Denkens bedeutet, dass wir vergangene politische, soziale, wirtschaftliche Systeme wiederherstellen wollen, weil es kein neues Modell gibt, das akzeptiere ich wie viele andere auch nicht. Wenn es aber eine Neuorientierung gibt, politisch-moralische Prinzipien zu entwickeln und mit diesen Prinzipien ein entsprechendes Staatssystem heute zu errichten, damit bin ich einverstanden. Es ist ein Irrtum unter vielen Muslimen, durch das Zurückgreifen auf frühere Systeme heute überleben zu können.

Einerseits lehnen Sie einen Rückgriff auf die Vergangenheit ab. Wie kann man dann aber eine Veränderung bewirken? Braucht man immer eine Revolution, um Veränderung zu bewirken?

Shabasteri: In erster Linie ist für die islamische Welt heute nötig, dass sie sich über die gegenwärtige Lage der Menschheit informiert. Wie kann der Mensch heute leben, ohne dass er sich von seinen früheren geistigen und spirituellen Wurzeln entfernt? Einerseits haben wir als Erbe aus der Vergangenheit unsere spirituellen Wurzeln und andererseits hat sich unsere Lebensweise in der modernen Welt von Grund auf geändert. Diese beiden Aspekte müssen verbunden werden: das Leben mit der Modernität und das Bewahren der Spiritualität. Beides zu kombinieren ist eine wichtige Aufgabe. Aber wie kann das umgesetzt werden? Die Erfahrungen haben gezeigt, dass man das durch Revolution nicht erreichen kann. Das kann man erreichen, wenn man fundierte Kenntnisse über die Bedürfnisse und Krisen der Menschheit in der heutigen Zeit hat und dabei versucht eine neue Orientierung zur eigenen Vergangenheit herzustellen. Diese neue Orientierung ist eine neue Interpretation der Vergangenheit.

Das heißt, der Koran müsste anders interpretiert werden. Dafür bedarf es einer gewissen Freiheit, nicht nur der persönlichen, sondern auch einer geistigen Freiheit. Wenn man die Gesellschaften in islamischen Ländern beobachtet, ihren Alltag und ihr Verhältnis zur staatlichen Autorität, dann stellt sich folgende Frage: Führt Unfreiheit vor allem in Glaubensfragen zu Unglauben?

Shabestari: Ja, das ist eine sehr wichtige Frage. Ich habe in der Vergangenheit eine Idee entwickelt, die eine gute Antwort auf diese Frage sein könnte. Ich meine, dass diese Neuinterpretation den Koran und die Sunna betreffen muss. Nach meiner Interpretation sind Koran und Sunna nicht die Quellen des Glaubens für einen Muslim. Sehen Sie, meines Erachtens gibt es einen großen Unterschied zwischen Christentum und Islam. Im Christentum basiert der Glaube auf dem Heiligen Buch und deswegen ist das Interpretieren dieses Heiligen Buches eine sensible Angelegenheit. Was immer man auch über das Buch sagt, man muss dabei vermeiden, dass diese Interpretation zum Unglauben führt.

Im Islam liegt meines Erachtens die Sache anders. Nach islamischer Auffassung hat jeder Mensch von seinem Wesen aus einen Weg zu Gott. Egal ob mit Offenbarung oder ohne. Einfach durch seine Fitra, also sein Wesen. Die Offenbarung ist eine Unterstützung für diesen vernünftigen Weg zu Gott, und um diese Erkenntnis des vernünftigen Gottes zu festigen. Die islamischen Theologen, die diese These klar formuliert haben, waren die Mutaziliten.

Ich höre schon manche Ulema im Chor schreien "Um Gottes Willen!", wenn Sie das so erklären…

Shabestari: (lacht) Ja, aber das macht nichts. Im Laufe der islamischen Geschichte sind viele solcher Schreie verklungen. Das bedeutet nicht, das Offenbarung nicht wichtig sei, aber es bedeutet, dass der Kern des islamischen Glaubens nach den islamischen Quellen selbst zwischen Mensch und Gott vorhanden ist, egal ob mit Offenbarung oder ohne. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Also schadet eine neue Interpretation von Koran und Sunna mit einer wissenschaftlichen Methode dem Glauben nicht, sondern zeigt uns die echten Elemente, die in diesen Offenbarungsquellen vorhanden sind, um diesen Glaubenskern zu unterstützen.

Es gibt ja einen Großteil der Ulema und viele Laien, die das nicht so sehen. Sie glauben, dass es den Zwang im Glauben gibt. Die koranische Aussage "Es gibt keinen Zwang im Glauben" interpretiert man so, dass sie nur für Nichtmuslime gültig sei, nicht aber für Muslime. Ein Muslim könne seinen Glauben nicht wechseln. Der Koran wird wie ein Gesetz verstanden, insbesondere hinsichtlich der Ehe- und Familienrechte, der Kleidungsvorschriften etc. Das sind ja die zentralen Fragen, um die sich die ganze Welt streitet. Es geht also um drei Bereiche: Politik, die persönliche Glaubensfreiheit und die individuelle Lebensgestaltung. Die islamische Welt, mit Ausnahme weniger Stimmen, scheint an bestimmten Unfreiheiten festhalten zu wollen, z.B. an dem Verbot, den Glauben zu wechseln, an der Zwangsverschleierung oder in Saudi Arabien an den drakonischen Hadd-Strafen, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Unfreiheiten werden mit Koranversen und Interpretationen gerechtfertigt. Ich habe den Eindruck, dass dieser Zwang eine areligiöse Gesellschaft schafft, die gar keinen Bezug mehr zu Religion hat, die sich indifferent zu Religion verhält.

Shabestari: Das stimmt. Das ist ja auch so eingetreten. Ich möchte zunächst etwas klären und dann Ihre Frage beantworten. Der historisch-kritische Umgang mit diesen Quellen, der wissenschaftliche Umgang mit Koran und Sunna schadet dem Glauben nicht. Im Laufe der islamischen Geschichte ist meines Erachtens aus politischen Gründen leider eine ungünstige und schädliche Verfälschung des islamischen Glaubens aufgetreten.

Zur Zeit des Propheten war nur der Glaube wichtig, der Glaube an Gott, das Leben mit Gott, Gott danken, das waren die wichtigen Dinge. Das sind ja die Hauptelemente von Religion. Die anderen Punkte waren z.B. wie sich die Frauen verschleiern sollen; und natürlich spricht der Koran nicht von einer Verschleierung. Im Koran finden wir einen Ausdruck, der meint, dass man in einer würdigen Weise erscheinen soll. Das war eine Lebensform für eine bestimmte Gesellschaft und für diese Gesellschaft wurden von Seiten des Propheten Vorschriften entsprechend der damaligen Zeit gemacht. Aber das bedeutet nicht, dass diese Vorschriften bezüglich des Ritus oder der erwähnten Punkte zum Kern des Glaubens gehören.

Im Laufe der Zeit ist aus politischen Gründen – besonders während der Abbasidenzeit – eine klare Verfälschung eingetreten. Der Glaube als Lebensorientierung ist zurückgetreten und diese formalen Vorschriften wurden als Hauptkern des Islam betrachtet, weil die Abbasiden damit ihre Herrschaft legitimieren wollten. Diese Legitimation konnten sie nur durch Gesetze schaffen, die sie als unabdingbaren Teil des Glaubens gesehen haben.

Heute geschieht doch genau das gleiche.

Shabestari: Ja, richtig, das sehe ich auch so. Meiner Meinung nach war das eine Verfälschung. Wir sehen nicht, dass der Prophet eine Frau kritisiert hat, warum sie keinen Schleier trägt, oder bei irgendeinem der anderen Kalifen. Aber ab der Abbasidenzeit hat diese Verfälschung ihren Anfang genommen, sie ist auch wieder zurückgegangen, aber in den letzten 23 Jahren ist sie wieder verstärkt zu beobachten.

Mein Eindruck ist, dass in den muslimischen Gesellschaften viele Unfreiheiten religiös begründet werden und so Gesellschaften entstehen, die Religion ablehnen, obwohl ständig darüber gesprochen wird. Also eine schizophrene Situation.

Shabestari: Ja, das ist vollkommen richtig.

Welche Gefahren sehen Sie darin?

Shabestari: Ich betrachte das äußerst negativ. Wir sehen in islamischen Ländern, dass besonders die Jugendlichen sich von Religion gänzlich entfernt haben, weil diese Art von Religion in einer Summe von Zwangsgesetzen formuliert und interpretiert, nicht zu akzeptieren ist. Das ist die Herausforderung. Das muss verbessert werden. Das ist es, was wir tun. Wir sagen, dass diese Gesetze aus der Frühzeit z.B. keinen Maßstab für den Glauben bilden, sondern diese waren ganz spezifisch für eine bestimmte Gesellschaft und sie sind nur verständlich in ihrem historischen Kontext. Wenn das im historischen Kontext verstanden würde, würde das bedeuten, dass – religiös gesehen – die Muslime heute das damalige Gesellschaftssystem politisch und wirtschaftlich möglicherweise ganz anders sehen, als es damals war.

Heißt das, entgegen der Behauptung, der Islam sei der Ursprung von allem, von Politik bis Wissenschaft, dass der Islam eine Kategorie neben vielen anderen ist, die das öffentliche und persönliche Leben bestimmen?

Shabestari: Damals waren diese Bereiche nicht voneinander getrennt. Es gab diese Differenzierung zwischen Religion, Politik oder Wirtschaft überhaupt nicht. Das war nahezu weltweit so. Religion war ein großer Schirm, unter dem sich Politik und Wirtschaft vereinten. Das war auch im Christentum so. Im Laufe der Zeit haben wir Menschen eine Differenzierung von Religion vorgenommen. Der Mensch heute versteht etwas ganz anderes unter Religion, Kunst, Wirtschaft, Politik. Heute ist das getrennt voneinander. Nun ist unsere Aufgabe zu präzisieren und klarzustellen, was der Kern von Glaube ist, was Gott von uns als religiöse Menschen verlangt.

Interview: Fatma Sagir

© Qantara.de 2008

Mohammad Mojtahed Shabestari, geb. 1936, ist einer der bedeutendsten religiösen Intellektuellen im derzeitigen Iran. Als Student gehörte er zu den Schülern Khomeinis. Ab 1970 leitete er das Shiitische Islamische Zentrum der Imam Ali Moschee in Hamburg und engagierte sich im islamisch-christlichen Dialog. 1979 kehrte er als Anhänger Khomeinis in den Iran zurück und wurde ins Parlament gewählt. Doch Shabestari zog sich bald aus der aktuellen Politik zurück. Seit 1985 lehrt er an der Teheraner Universität islamische Philosophie, vergleichende Religionswissenschaft und Theologie. Er entwickelte ein emanzipatorisches und ideologiekritisches Verständnis der Religion. Seine moderne Konzepte von Individualismus, Menschenrechten und Demokratie sind für viele muslimische Juristen, die ein zeitgemäßes islamisches Recht verfolgen, von großer Bedeutung. Nach wie vor organisiert Shabestari internationale Konferenzen zum christlich-islamischen Dialog.

Fatma Sagir ist Islamwissenschaftlerin und freiberufliche Journalistin. Derzeit arbeitet sie an einem Promotionsprojekt über Koraninterpretationen in der Dialogpraxis von Muslimen und Hindus.
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