"Wir brauchen dringend eine Reform im Islam"

Wie arbeiten feministische islamische Theologinnen? Und wie lässt sich heute angemessen mit umstrittenen Koranversen umgehen? Darüber hat sich Claudia Mende mit Maha El-Kaisy-Friemuth, Professorin für Islamisch-Religiöse Studien der Universität Erlangen-Nürnberg, unterhalten.

Von Claudia Mende

Frau El-Kaisy, wie sehen Sie Ihre Aufgabe als islamische Theologin an einer deutschen Hochschule?

Maha El-Kaisy-Friemuth: Wir haben an den neuen Lehrstühlen für Islamische Theologie in Deutschland die große Chance, einen reformorientierten Islam, aufzubauen. Das ist natürlich kein ganz neues Projekt und wir wollen auch nicht die normativen Grundlagen des Islam neu erfinden. Aber was wir heute dringend brauchen, ist eine Reform im Islam, damit der Islam in unsere moderne Situation mit ihren aktuellen Problemen hinein sprechen kann.

Was meinen Sie damit?

El-Kaisy-Friemuth: Mit einer Reform des Islam meine ich einen Prozess, ähnlich wie es ihn in der christlichen Reformation gab. So verstehen wir am Department Islamisch-Religiöse Studien (DIRS) in Erlangen unsere wissenschaftliche Arbeit. Wir lehnen nicht ab, was die Ulema, die traditionellen Rechtsgelehrten über Jahrhunderte über den Koran und den Islam formuliert haben, aber wir versuchen darüber hinaus zu denken und neue Aussagen für unsere heutige Zeit zu formulieren.

Wir können uns dabei auf einen Prozess beziehen, der bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts in den muslimischen Ländern begonnen hat. Viele Theologen und islamische Denker sind bereits ganz stark in diese Richtung gegangen z.B. Ali Schariati oder Abdolkarim Sorusch im Iran; in Ägypten Nasr Hamid Abu Zeid, im europäischen Kontext Mohammed Arkoun und in Südafrika Farid Esack. Sie alle – und noch viele weitere muslimische Denker – versuchen, den Islam neu zu verstehen und neu zu formulieren. Dabei beschäftigen sie sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten, zu meinen Forschungsschwerpunkten gehört die Stellung der Frau im Islam.Wie gehen Sie in Ihrer Forschung vor?

Kind in einer Koranschule im libyschen Tripoli; Foto: MAHMUD TURKIA/AFP/GettyImages
Für eine zeitgemäße Lesart des Korans: "Wir lehnen nicht ab, was die traditionellen Rechtsgelehrten über Jahrhunderte über den Koran und den Islam formuliert haben, aber wir versuchen darüber hinaus zu denken und neue Aussagen für unsere heutige Zeit zu formulieren", sagt Maha El-Kaisy-Friemuth.

El-Kaisy-Friemuth: Meine Frage ist, wie wir angesichts widersprüchlicher Aussagen im Koran die Position der Frau im Islam heute verstehen können. Wie können wir mit problematischen Versen umgehen, ohne sie abzulehnen, sondern indem wir sie für die Gegenwart begreifen. Zum Beispiel Sure 4, Vers 3: "Und wenn Ihr fürchtet, nicht gerecht gegen die Waisen zu sein, so heiratet, was Euch an Frauen gut ansteht, zwei, drei oder vier". Der Koran spricht hier im Kontext des 7. Jahrhunderts, als die Beziehungen der Geschlechter zueinander völlig anders waren als heute. Diese Aussagen sind zu respektieren; aber wie schaffen wir es, dass sie die Möglichkeiten von Frauen heute nicht einschränken?

Aber manche Aussagen sind doch heute einfach nicht mehr akzeptabel?

El-Kaisy-Friemuth: Man kann denselben Text anders sprechen lassen. Viele feministische Theologinnen und Theologen versuchen, auf diese Weise über den Koran zu reflektieren. Zum Beispiel, indem wir uns den historischen Kontext genauer anschauen. Der Koran wurde in einer Zeit des Umbruchs von einer matriarchalen zu einer patriarchalen Gesellschaft geoffenbart. In vorislamischer Zeit wurden in Mekka auch Göttinnen verehrt, die Hauptgottheiten waren sogar weiblich. Das zeigt, dass die alten Traditionen in Mekka stark matriarchal bestimmt waren. Aber es gab auch patriarchal geprägte Stämme auf der Arabischen Halbinsel, die sich nach und nach durchsetzten, weil sie eine starke Stellung im Handel behaupten konnten.

Was bedeutet das für das heutige Verständnis des Korans?

El-Kaisy-Friemuth: Es erklärt, warum der Koran zwischen matriarchalen und patriarchalen Tendenzen schwankt. Ein Beispiel: Der Prophet war mit mehreren Frauen verheiratet. Es war bekannt, dass seine Frauen sehr aktiv am Aufbau der islamischen Gemeinschaft beteiligt waren. Als Mohammed und seine Gefolgsleute ins patriarchal geprägte Medina kamen, gab es dort starke Stimmen, die sagten: Die Frauen des Propheten sollen im Hintergrund bleiben. Das schlägt sich dann in Koranversen wie zum Beispiel in Sure 33, Vers 53 nieder. In den Versen geht es um die Geselligkeit im Haus des Propheten. Am Schluss des Verses heißt es: "Und wenn Ihr sie (seine Frauen) um irgend etwas zu bitten habt, so bittet sie hinter einem Vorhang."

Ägypterin mit Niqab liest den Koran; Foto: Reuters
El-Kaisy-Friemuth: "Sure 33, Vers 53 wird häufig so verstanden, dass Frauen sich mit einem Niqab verhüllen sollen. Aber dann gibt es Verse wie in Sure 4, 28 bis 31, in denen der Koran über Frauen spricht, die Geld verdienen und Männern gleichgestellt sind. Wenn man beides nebeneinander hält, denkt man: Das ist ein Widerspruch!"

Ist dieser Vers zentral für die Forderung, dass Frauen sich verschleiern und in der Öffentlichkeit zurückhaltend verhalten sollen?

El-Kaisy-Friemuth: Der Vers wird häufig so verstanden, dass Frauen sich mit einem Niqab verhüllen sollen. Aber dann gibt es Verse wie in Sure 4, 28 bis 31, in denen der Koran über Frauen spricht, die Geld verdienen und Männern gleichgestellt sind. Wenn man beides nebeneinander hält, denkt man: Was ist das für ein Widerspruch! Um das zu verstehen, muss man den Kontext kennen. Das ist gute Forschungsarbeit.

Und wie lassen sich diese Widersprüche auflösen?

El-Kaisy-Friemuth: Man muss zunächst unterscheiden, ob die Beurteilung vom Koran selber stammt oder von einem der Kommentatoren, die in der Regel von ihrer eigenen Kultur beeinflusst sind. Stammt die Bewertung von einem Kommentator, dann muss man sich den Kontext der Passage anschauen. Handelt es sich um eine grundsätzliche Wertung? Oder bezieht sie sich auf eine konkrete Situation?

In Sure 33, Vers 53 geht es darum, wie man sich verhalten soll, wenn man beim Propheten zum Essen eingeladen ist. Er enthält für mich keine Regel über das Verhalten von Frauen, sondern eine Anleitung für den höflichen Gast. Hintergrund ist die beginnende Verschmelzung unterschiedlicher Stämme mit verschiedenen Traditionen der Höflichkeit zu einer muslimischen Gemeinschaft.

Ist diese Art von islamischer Theologie momentan nur im Westen möglich?

El-Kaisy-Friemuth: In den meisten Ländern der islamischen Welt, mit Ausnahme der Türkei, wäre diese Art der Theologie derzeit schwierig. Aber es gibt eine beachtliche Anzahl von progressiven muslimischen Gelehrten zum Beispiel im Iran oder in Marokko, die an den rationalistischen Schulen des Islam orientiert sind. Es gibt beachtliche Aussagen dazu in der islamischen Tradition. Sie sind auch für uns wichtig, aber sie sind nicht das Ende der Debatte. Wir entwickeln die Tradition weiter, greifen schon mal Gesagtes auf und diskutieren es neu.

Welches sind Ihre persönlichen Vorbilder?

El-Kaisy-Friemuth: Für mich ist zum Beispiel die in Kairo geborene und in den USA lehrende feministisch-islamische Theologin Leila Ahmed wichtig. Sie hat sich vor allem mit Gender-Themen beschäftigt. In Erlangen wollen wir verschiedene Formen eines reformorientierten Islam fördern. Diese neuen Ansätze können aber auch aus einer traditionellen oder rationalen Schule kommen. Unsere lange akademische Geschichte ist sehr reich an verschiedenen theologischen Richtungen.

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2014

Professor Maha El-Kaisy-Friemuth lehrt seit 2012 Islamisch-Religiöse Studien mit Praktischem Schwerpunkt am Department Islamisch-Religiöse Studien an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de