"Wir brauchen neue Normen des Zusammenlebens"

Die renommierte türkische Soziologin Nilüfer Göle erklärt im Gespräch mit Ceyda Nurtsch, weshalb nach den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" neue Formen des gesellschaftlichen Dialogs in Europa nötig sind, um eine weitere Polarisierung zu vermeiden.

Von Ceyda Nurtsch

Frau Göle, Sie haben sich immer dafür ausgesprochen, in Europa einem vermeintlichen "Kampf der Kulturen" entgegenzuwirken und stattdessen eine neue Gesellschaft zu formen, in der Muslime eine wichtige Rolle spielen. In letzter Zeit erleben wir jedoch auf der einen Seite islamfeindliche Bewegungen wie Pegida in Deutschland oder einen Zuwachs zu den Rechtsextremen von Marine Le Pen in Frankreich. Auf der anderen Seite lassen sich vermehrt dschihadistische Bewegungen in Europa beobachten. Ist das Projekt der neuen Gesellschaft angesichts dieser Polarisierung gescheitert?

Nilüfer Göle: Sie haben ganz Recht. Wir haben es in Europa und weltweit mit zwei Szenarien oder Konfigurationen zu tun. Entweder wir treten in die Falle des Kampfs der Kulturen, wie Huntington es beschrieb, oder wir vermeiden ihn und definieren Anstand und gesellschaftliches Zusammenleben neu. Und Europa wird zweifelsohne einer der Schauplätze sein, wo man diese Hypothesen oder Szenarien diskutieren wird.

Wir leben in einer sehr schwierigen Zeit. Im Westen, ebenso wie die muslimische Welt, haben wir Schwierigkeiten, einander zu verstehen und neue Werte zu finden, die uns dabei helfen, neue Normen des Zusammenlebens zu finden. Die jüngsten Anschläge gegen die Karikaturisten von "Charlie Hebdo" und die Geiselnahme von Juden in einem koscheren Supermarkt in Paris stellen sehr schwierige Momente für die europäischen Gesellschaften und auch für die dort lebenden Muslime dar. Denn diese Terrorattacken erschweren den normalen Muslimen Europas, ihr tägliches Leben zu leben, ohne angegriffen oder verdächtigt zu werden, ein Terrorist zu sein oder andere Loyalitäten zu haben.

Unsere Aufgabe als Soziologen und Intellektuelle ist es, in der Praxis nach neuen Möglichkeitshorizonten zu suchen. Und diese gibt es. Die Solidaritätszusammenkünfte haben gezeigt, dass es in Deutschland und in Frankreich einen kollektiven Willen gibt, gemeinsam zu leben und nicht in die Falle der sozialen Zersplitterung und der Polarisierung zu tappen. Die Intellektuellen müssen die Übersetzer verschiedener kultureller Empfindsamkeiten und Werte sein. Es ist sehr traurig, wenn wir sehen, dass diejenigen, die die Macht des Wortes haben, diese gegeneinander benutzen.

Nach den Anschlägen zeigten viele Menschen ihre Solidarität, darunter auch Politiker aus Staaten, in denen es keine freie Meinungsäußerung gibt. Sehen Sie die Möglichkeit, dass dieser Diskurs auf einer universelleren Ebene geführt wird?

Frankreichs Muslime trauern nach den Anschlägen von Paris; Foto: picture-alliance/dpa/Matthieu De Martignac
Frankreichs Muslime unter Druck: "Die jüngsten Anschläge gegen die Karikaturisten von 'Charlie Hebdo' und die Geiselnahme von Juden in einem koscheren Supermarkt in Paris stellen sehr schwierige Momente für die europäischen Gesellschaften und auch für die dort lebenden Muslime dar. Denn diese Terrorattacken erschweren den normalen Muslimen Europas, ihr tägliches Leben zu leben, ohne angegriffen oder verdächtigt zu werden", meint Nilüfer Göle.

Göle: Ich denke, worum es heute gehen muss, ist nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung, sondern die Art und Weise, wie wir miteinander reden. Wir müssen neue Sprachen finden. Satire, die freie Meinungsäußerung und Humor sind natürlich sehr wichtig, aber wir sollten auch wissen, dass – ohne es auf die Spitze zu treiben – freie Meinungsäußerung an sich kein heiliger Wert ist. Es hängt nur davon ab, was man damit macht.

Satire war nicht immer ein Instrument in den Händen der Unterdrückten. Manchmal wird sie auch von den Unterdrückern benutzt, beispielsweise von den gehobeneren Klassen, die sich über das Volk lustig machen. In den Schulen kennen wir das: Diejenigen, die man mit Spott überzieht, sind meist die verletzlichen Schüler. "La tête de Turque" bezeichnet denjenigen, gegen den sich die anderen Schüler verbünden, über den sie sich mokieren. Auf der anderen Seite ist Humor hilfreich, wir sollten nicht zu politisch korrekt sein. Denn Humor hilft, über Konflikte oder Spannungen in der Gesellschaft zu reden. Als wir vor dem schrecklichen Attentat von Paris über die Meinungsfreiheit gesprochen haben, war klar, dass man alles publizieren sollte. Wie aber "die Anderen" sie auffassen, wie sie darauf Bezug nehmen, wurde nicht diskutiert.

Die 68er-Generation im Westen, besonders in Frankreich und Deutschland, dachte immer, dass sie auf der Seite der Unterdrückten, der Armen steht und eine emanzipatorische Macht des Diskurses hat. Aber sie bemerkte nicht, dass sie ihre Waffen auch gegen Menschen richtete, die in ihrer sozialen Position verletzlich sind. Ganz ähnlich war der Umgang der Feministinnen der 68er-Generation mit den jungen muslimischen Mädchen der zweiten und dritten Generation von Migranten, die mit Kopftüchern die Schule besuchen wollten. Die Feministinnen dachten, sie kämpfen gegen die Kirche. Es handelte sich um eine Überlagerung ihrer eigenen Agenda, die sie in den sechziger, siebziger und bis neunziger Jahre verfolgten, ohne dabei böse Absichten zu haben. Doch berücksichtigten dabei nicht die Muslime, die andere Empfindsamkeiten und eine andere Lebenssituation mit sich brachten.

Das zeigt, dass bestimmte Gesellschaftskonzepte gründlich überdacht werden müssen. Der Umgang mit Satire, wie wir gesehen haben, ist sicherlich ein Teil davon. Würden Sie sagen, Säkularismus und republikanische Identität wären weitere Aspekte einer solchen Debatte?

Trauermarsch für die Opfer der Anschläge auf "Charlie Hebdo" am 11.01.2015; Foto: dpa/picture-alliance
Für eine neue Debatte über den Stellenwert von Säkularismus und republikanischer Identität für alle Bevölkerungsgruppen: "Säkularismus sollte kein Wert, sondern ein Prinzip sein, das es anderen Menschen ermöglicht, einen gemeinsamen Raum zu teilen. Es sollte einen Rechtsraum und eine Konversationsfläche bieten, die einlädt, nicht ausschließt", so Göle.

Göle: Ich denke, wenn man manchmal etwas zu oft wiederholt, ist es kein organisches Lebenskonzept mehr. Stattdessen entwickelt es sich zu einem Instrument der Abwehr gegen "die Anderen". Säkularismus sollte keine Mauer darstellen, die Menschen aus einer Gesellschaft heraustreibt und sie fremd fühlen lässt. Denn wenn säkular ausschließlich nicht-muslimisch bedeutet, wäre das gewiss ein Problem. Säkularismus sollte kein Wert, sondern ein Prinzip sein, das es anderen Menschen ermöglicht, einen gemeinsamen Raum zu teilen. Es sollte einen Rechtsraum und eine Konversationsfläche bieten, die einlädt, nicht ausschließt.

Inwiefern stellt Ihrer Meinung nach der Anschlag auf "Charlie Hebdo" ein Wendepunkt für die europäischen Gesellschaften dar?

Göle: Es gibt ein davor und ein danach. Der 7. Januar steht für ein bestimmtes Datum. Es gibt Menschen, die diesen Tag auch mit dem 11. September vergleichen. Aber ich denke, die Antworten darauf werden anders ausfallen. Sie können nicht dieselben sein. Europa kann keinen Krieg gegen den Islam führen, denn die Muslime leben in dieser Gesellschaft. Sie müssen also andere Antworten geben, wenn wir nicht in die Falle von Islamophobie und Antisemitismus treten wollen.

Interview: Ceyda Nurtsch

© Qantara.de 2015

Die türkische Soziologin Nilüfer Göle wurde 1953 in Ankara geboren und ist Professorin für Soziologie an der École des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Zu ihren zahlreichen Publikationen zählen u.a.: "Anverwandlungen: Der Islam in Europa zwischen Kopftuchverbot und Extremismus" aus dem Jahr 2008 sowie "Republik und Schleier. Die muslimische Frau in der modernen Türkei" aus dem Jahr 1995.