Tunesiens Generation "No Future" als tickende Zeitbombe

Der Politologe Hamza Meddeb kritisiert die tunesischen Verantwortlichen dafür, sich ausschließlich auf Sicherheitsaspekte im Antiterrorkampf zu konzentrieren, anstatt die Ursachen der Radikalisierung der jüngeren Generation wirklich zu bekämpfen. Mit Meddeb hat sich Sarah Mersch in Tunis unterhalten.

Von Sarah Mersch

Anis Amri, der Attentäter von Berlin, war ein tunesischer Kleinkrimineller, der sich offenbar erst in Europa radikalisiert hat. Ist dies ein typischer Werdegang?

Hamza Meddeb: Fälle wie die von Anis Amri oder Mohamed Lahouiej Bouhlel, dem Attentäter von Nizza, sind sehr aufschlussreich, denn diese Personen hatten keine Verbindung zu Terroristen in Tunesien. Ihre Radikalisierung hat in Europa stattgefunden. Diese Entwicklung zwingt uns, die gewalttätige Radikalisierung in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten. Es geht nicht nur um Menschen, die sich in Tunesien radikalisiert haben und deren Verbrechen in Europa eine Kontinuität dieser Radikalisierung sind, sondern es handelt sich um Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenswegen, die zunächst nichts mit Terrorismus zu tun hatten, aber dann in den Dschihadismus abgerutscht sind. Einige Städte in Europa spielen dabei eine besondere Rolle, wie zum Beispiel Mailand, wo es schon seit den 1990er Jahren bedeutende tunesische Dschihadisten-Netzwerke gibt. Anis Amri war ebenfalls dort und ist nach dem Anschlag dann ja auch dorthin zurückgekehrt. Auch in Belgien und in Frankreich gibt es schon lange existierende Netzwerke. Die globalisierten Lebenswege der Attentäter zeigen, dass die Radikalisierung ein globales Phänomen ist. Im Fall von Anis Amri stellt sich die Frage, was während seiner Haft in Italien passiert ist. Gefängnisse sind oft Brutstätten gewalttätiger Radikalisierung.

Auch wenn es sich um ein globales Phänomen handelt: die hohe Anzahl der Tunesier in diesen Netzwerken ist auffällig. Wie erklären Sie das?

Meddeb: Um das Phänomen zu verstehen, muss man etwas in die 2000er-Jahre zurückblicken, das letzte Jahrzehnt Ben Alis. Damals fanden zwei wichtige Entwicklungen statt. Erstens gab es eine Reihe Ereignisse, die die tunesische Jugend politisiert haben: die zweite Intifada 2002, der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah 2006, der Gaza-Krieg 2008 – mit all der Bedeutung, die Palästina für den Antiimperialismus in der Region hat. In der Vorstellungswelt der islamischen Umma haben auch immer radikale Gruppen in diesem Kontext eine große Rolle gespielt. Die Irak-Invasion war ebenfalls ein wichtiger Moment, denn bereits damals sind mehrere hundert tunesische Dschihadisten in den Irak gegangen, trotz der Repression und der starken Polizeipräsenz des Ben-Ali-Regimes.

Diese erste Dynamik wurde von einer zweiten flankiert, die man nicht vergessen darf: Dieses Jahrzehnt war ein Jahrzehnt der immensen sozialen Krise mit hoher Arbeitslosigkeit, vor allem unter Akademikern. Es war das Jahrzehnt der sozialen Proteste, die sich über die klassische politische Opposition hinaus ausgeweitet haben, denn das Regime war nicht in der Lage, der Jugend eine Perspektive, eine Zukunft zu bieten. Immer mehr Leute drängten durch die Bildung auf den Arbeitsmarkt, aber sie hatten keinerlei Berufsaussicht.

Salafistische Jugendliche in Ettadhamen, Tunis; Foto: picture-alliance/ZUMA Press
Staatliches Versagen auf die Sinnkrise der Jugend

Es handelt sich also um ein Jahrzehnt der großen Gesellschaftskrise. Und die Antwort des Regimes auf diese Krise war die Repression. Der aufkeimende Salafismus unter den Jugendlichen wurde mit dem Antiterrorgesetz von 2003 bekämpft: Mindestens 2000 Personen wurden verurteilt und saßen im Gefängnis. Und die Gefängnisse wurden zu Brutstätten der Radikalisierung. Dort wurden neue Dschihadisten rekrutiert, andere noch stärker radikalisiert. Und dort haben sich die verschiedenen Generationen von Terroristen kennengelernt: die, die aus dem Ausland abgeschoben wurden und die, die zu Hause inhaftiert wurden. So entwickelten sich die Gefängnisse zum Treffpunkt der verschiedenen Generationen, die sich vorher nicht kannten und die sich normalerweise wohl auch gar nicht kennengelernt hätten. Nach der Revolution 2011 wurden dann bei einer Generalamnestie tausende Dschihadisten freigelassen. Und gleichzeitig begannen die Konflikte in Libyen und in Syrien. Außerdem darf man nicht vergessen, dass der Staat durch den Aufstand 2010/11 seine Legitimität und Kontrolle über die Moscheen verloren hat.

Der Staat ist also nicht in der Lage, auf die Sinnkrise der tunesischen Jugend eine Antwort zu geben. Der soziale Aufstieg funktioniert nicht mehr. Leute studieren, um arbeitslos zu werden. Sie sind arbeitslos, weil sie nicht arbeitsfähig sind, da es eine absolute Inkompatibilität zwischen dem Arbeitsmarkt und der Universität gibt. Es gibt nichts mehr, dass die jungen Leute mobilisiert und ihnen Hoffnung verleiht. Da ist eine Generation "No Future" herangewachsen. Und diese Generation "No Future" hat sich für eine "No Future"-Gewalt entschieden, sie verfällt in Nihilismus, in Gewalt gegen die Gesellschaft und den Staat.

Das heißt, die Religion ist eigentlich nur ein Vehikel, um dieser Krise einen Sinn zu verleihen?

Meddeb: Genau, die Radikalisierung ist in der Regel nicht das Ergebnis einer langen religiösen Praxis. Es gab einen tunesischen Rapper, der zum Dschihadisten geworden ist. Der Attentäter von Sousse im Juni 2015 war ein Breakdancer. Das sind keine Leute, die dafür bekannt waren, religiös zu sein, auch der Attentäter gegen die tunesische Präsidialgarde (November 2015) nicht. Die Leute kippen innerhalb von wenigen Monaten. Sie haben keine weitreichende Kenntnis der Religion, die erklären könnte, wie sie zu so einer gewalttätigen religiösen Praxis kommen könnten. Es geht hier nicht um den Islam oder um eine besondere Lesart, auch wenn es natürlich gewalttätige Verse im Islam gibt, genauso wie in anderen Religionen auch. Oft sind es Kleinkriminelle, die abgleiten, und der Dschihad ist nur der Versuch, einen ehrenwerten Ausweg aus einer kriminellen Karriere zu finden. Das wird zum quasi klassischen Verlauf und deshalb ist es so wichtig, diese Krise der tunesischen Jugend zu verstehen.

80 Prozent der in Tunesien wegen Terrordelikten Verurteilten sind zwischen 18 und 34 Jahre alt. Die junge Generation hat keinen gesellschaftlichen Aufstieg hinlegen können wie die Eltern. Die Diktatur Ben Alis war eine Polizeidiktatur, es gab nichts, um die geistige Leere zu füllen. So konnte sich die dschihadistische Doktrin leicht ausbreiten. Wir haben es also mit einer extrem gewalttätigen Lesart des Islams zu tun, die aber nicht dafür geschätzt wird, was sie ist, sondern dafür, was sie den Menschen erlaubt, denn sie legitimiert die Gewalt und sakralisiert ihren Opferstatus.

Salafisten der  "Ansar Sharia" demonstrieren 2013 in Tunis; Foto: Taieb Kadri
Kontrollverlust des Staates nach der Arabellion: Seit der Revolution und dem Sturz des langjährigen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali im Frühling 2011 erlebt Tunesien einen Aufschwung des Islamismus. Begünstigt wurde dieser durch das Chaos nach der Revolution sowie wirtschaftliche und soziale Unsicherheit. Bei islamistischen Anschlägen wurden seither mehr als einhundert Soldaten und Polizisten getötet, außerdem rund 20 Zivilisten und 59 ausländische Touristen.

Wenn die tunesische Regierung jetzt ankündigt, mit aller Härte gegen die Rückkehrer vorzugehen und lange Gefängnisstrafen androht, wiederholt sie dann nicht die Fehler der Vergangenheit?

Meddeb: Das ist genau das Problem Tunesiens. Man gewinnt den Eindruck, dass die Regierenden nichts gelernt haben. Das Gefängnis kann nur Teil einer globalen Lösung sein. Wer ein Verbrechen begangen hat und an Gewalttaten beteiligt war, muss natürlich verurteilt werden. Aber das darf nicht alles sein. Es ist gerade einmal zwei Monate her, dass der Präsident eine Strategie gegen den Terrorismus unterzeichnet hat. Aber selbst die hat keinen umfassenden Ansatz, der auch die Prävention einschließt. Es handelt sich um eine klassische Strategie, wie die Koordination der Sicherheitskräfte verbessert und die Strafverfolgung optimiert werden kann.

Wir machen die gleichen Fehler wie in der Vergangenheit. Es wäre an der Zeit, dass die Regierenden verstehen, dass die Jugend Entscheidungen braucht: einen richtigen Plan zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Perspektiven und Reformen, richtige Jugend- und Kulturhäuser. Außerdem sind Reformen im religiösen Bereich dringend nötig. Ein Großteil der tunesischen Imame ist über sechzig Jahre alt. Nur zehn Prozent haben einen theologischen Hochschulabschluss und können einem radikalen Diskurs argumentativ überhaupt etwas entgegensetzen.

Wie könnte ein vernünftiger Umgang mit den Rückkehrern denn aussehen?

Meddeb: Es gibt solche, die Verbrechen begangen haben oder hohe Positionen in extremistischen Gruppen einnahmen. Diese Leute müssen identifiziert und zur Rechenschaft gezogen werden. Bei denjenigen, die aus Europa ausgewiesen werden, muss die Zusammenarbeit der Justiz verbessert werden. Was machen wir mit den Doppelstaatlern? Wohin werden die abgeschoben? All das muss diskutiert werden.

Dann gibt es noch die Mitglieder terroristischer Vereinigungen. Auch für sie sieht das tunesische Antiterrorgesetz Strafen vor. Aber man kann es nicht bei der Verurteilung belassen, sondern muss diejenigen anhören, die zurückkehren, weil sie vielleicht ihre Ansichten geändert haben. Wenn sie selbst bereit sind, über ihre Erfahrungen zu sprechen, dann muss man ihnen das Wort geben. Wir müssen verstehen, was sie motiviert hat, wie sie in den Dschihadismus abgeglitten sind. Wenn sie bereit sind zu sprechen, dann ist das bereits ein gutes Zeichen; dann muss man sie auf diesem Weg begleiten, weil sie vielleicht ihr Engagement in Frage stellen und bei der Prävention eine Rolle spielen können. Man darf nicht alle über einen Kamm scheren, denn das favorisiert immer die Radikalsten. Das Gefängnis war nie und wird nie eine Lösung sein.

Wie erklären Sie sich die erregte Debatte, die derzeit über das Thema Rückkehrer in Tunesien geführt wird?

Tunesiens Premierminister Youssef Chahed; Foto: picture-alliance/dpa
Flucht aus der politischen Verantwortung: "Plädoyer für politische Verantwortung: "Es ist nicht normal, dass Premierminister Youssef Chahed die Rückkehr der Dschihadisten ablehnt. Man kann ihnen nicht verbieten, in ihr Land zurückzukehren. Sowohl die Verfassung als auch die internationalen Abkommen verbieten den Entzug der Staatsangehörigkeit. Die tunesischen Politiker sollten mit ihrem Populismus und ihrer Demagogie aufhören", meint Hamza Meddeb.

Meddeb: Es gibt keinen Konsens, wie man mit dem Problem umgeht. Sobald es um die Rolle des politischen Islam geht, polarisiert sich die Gesellschaft. Außerdem konzentriert sich die Debatte stets auf Sicherheitsaspekte. Die Rückkehrer sind Kriminelle und Terroristen, deshalb sollen sie besser wegbleiben. Man will keine weiteren Probleme zu den bereits existierenden. Deshalb sucht man sich eine bequeme Lösung aus. Aber ein so komplexes, globales Problem wie dieses benötigt eine zwischenstaatliche Lösung. Man kann auch nicht einfach Kleinkriminelle zurücknehmen ohne sie zu überwachen. Sie werden entweder hier Probleme verursachen oder versuchen, nach Europa zurückzukehren. Man muss für globale Probleme auch globale Lösungen finden und die Kooperation zwischen den Staaten verstärken. Es reicht nicht, diese Leute einfach zurückzuweisen. Sonst haben wir es bald mit menschlichen Zeitbomben zu tun, die entweder hier explodieren oder anderswo. Wir spielen uns nur gegenseitig den Ball zu.

Es ist nicht normal, dass der Premierminister die Rückkehr der Dschihadisten ablehnt. Man kann ihnen nicht verbieten, in ihr Land zurückzukehren. Sowohl die Verfassung als auch die internationalen Abkommen verbieten den Entzug der Staatsangehörigkeit. Die tunesischen Politiker sollten mit ihrem Populismus und ihrer Demagogie aufhören und endlich Verantwortung übernehmen. Sie müssen eine Strategie entwickeln, die diesem komplexen Problem gerecht wird, mit dem wir  heute konfrontiert sind.

Haben Sie den Eindruck, dass Stimmen wie Ihre in dieser aufgeregten Debatte noch gehört werden?

Meddeb: Leider nein. Die Debatte ist viel zu polarisiert dafür. Wir haben den siebten Premierminister seit dem Umbruch und die durchschnittliche Lebensdauer einer Regierung liegt bei unter einem Jahr. Das ist nicht nachhaltig. Man verhindert nur das schlimmste, aber man schafft nichts Neues: Wir haben verhindert, dass Tunesien zusammenbricht, aber wir haben nichts geschaffen, das mittelfristig funktioniert. Das Problem der Extremisten wird sich nicht erledigen, in dem man die Gesellschaft ihren eigenen Dämonen überlässt. Die tunesische demokratische Erfahrung ist deshalb so fragil, weil es dem Land auf allen Ebenen an Visionen mangelt. Wer gerade regiert, der verwaltet nur den Status quo. Doch dadurch wird die Situation immer fragiler, weil wir uns permanent im Kreis drehen.

Das Interview führte Sarah Mersch.

© Qantara.de 2017

Der tunesische Politologe Hamza Meddeb ist Research Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.