"Ein AKP-Verbot wäre ein Rückschritt für die Demokratie"

Der deutsch-türkische Politologe Cemal Karakas von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung befürchtet ein vorläufiges Ende des Reformprozesses, falls die regierende AKP verboten wird. Ein Interview von Dogan Michael Ulusoy

Cemal Karakas; Foto: HSFK
Es sei zu weit gegriffen, der AKP demokratiefeindliche Bestrebungen zu unterstellen, so der Türkeiexperte Cemal Karakas.

​​Herr Karakas, welche Folgen hätte ein Verbot der AKP für die innenpolitische Lage in der Türkei?

Cemal Karakas: Parteiverbote sind in der Türkei nichts Außergewöhnliches. Viele Parteien wurden unter anderem Namen und mit einem modifizierten Programm neu gegründet. Auch die AKP ist so entstanden. Allerdings war lange keine Partei so erfolgreich wie sie, vor allem, was die Wirtschafts- und Finanzpolitik betrifft. Das Wirtschaftswachstum war in den letzten sechs Jahren stabil, der Haushalt wurde konsolidiert und die Inflation fiel auf unter zehn Prozent. Die Wirtschaft würde unter einem Verbot der AKP beträchtlich leiden.

Hätte ein Verbot der AKP ein Ende aller Reformanstrengungen zufolge?

Karakas: Vorläufig sicher, denn die AKP ist die größte Befürworterin des EU-Beitritts. Die beiden Oppositionsparteien CHP und MHP sind da deutlich reservierter. Leider hat auch die AKP in den letzten zwei Jahren die Geschwindigkeit des EU-Reformprozess gedrosselt. Da spielen die Streitigkeiten über die Zypern-Problematik mit der EU, wo die Türkei sich massiv benachteiligt sieht, eine große Rolle.

Wie würde die EU auf ein Verbot der Regierungspartei reagieren?

Karakas: Es wird darauf ankommen, wie so ein Verbot begründet wird. Sollte juristisch einwandfrei nachgewiesen werden, dass die AKP demokratiefeindliche Ziele verfolgt hat, wird die Reaktion der EU neutral sein. Die Verhandlungen werden dann so wie bisher weitergehen. Sollte aber das Verbot juristisch nicht wasserdicht sein oder den EU-Standards nicht entsprechen, könnten die Verhandlungen für eine gewisse Zeit ausgesetzt werden. Bei gravierenden rechtsstaatlichen Verletzungen hat die EU-Kommission das Recht dazu.

AKP-Anhänger feiern Wahlsieg; Foto: AP
Im Juli 2007 feierten AKP-Anhänger den Wahlsieg ihrer Partei. Die AKP konnte einen Erdrutschsieg für sich verbuchen. Der Volkspartei droht jetzt die Auflösung.

​​Kann man der AKP denn demokratiefeindliche Tendenzen vorwerfen?

Karakas: Wie jede andere Regierungspartei betreibt auch die AKP Klientelpolitik und bringt parteinahe Personen im Staatsdienst unter. Daraus aber pauschal eine Islamisierung "von oben" abzuleiten oder der AKP demokratiefeindliche Tendenzen zu unterstellen, ist mir zu weit her gegriffen. Ich meine, dass ein Verbot der AKP ein Rückschritt für die türkische Demokratie wäre. Die AKP politisiert zwar auch die Religion, aber ich glaube nicht, dass sie eine geheime islamistische Agenda besitzt, welche die Türkei in eine "Islamische Republik" umwandeln soll.

Was macht Sie da so sicher?

Karakas: Ich glaube, dass sie mehr zu verlieren hätte, da die politischen Kosten sehr hoch wären. Erstens gibt es in der Türkei keine Mehrheit in der Bevölkerung, die eine solche Wandlung will, d.h. die AKP würde sich de-legitimieren. Zweitens würde das türkische Militär eingreifen und die AKP entmachten. Drittens würde die Regierung einen ihrer Hauptunterstützer, die türkische Wirtschaft und Auslandsinvestoren, vergraulen, weil dann nämlich aus- und inländisches Kapital massiv aus dem Land abgezogen würde. Und viertens würden die beiden größten Förderer der Türkei, die EU und die USA, einem solchen Wandel sehr kritisch gegenüber stehen.

Manche türkische Kommentatoren sprechen von einer Normalisierung des Verhältnisses der Bevölkerung zur Religion. Was ist damit gemeint?

Demonstration in Istanbul gegen die Regierung; Foto: AP
Im April 2007 gingen tausende Kemalisten und Pro-Säkulare gegen die Regierung und eine befürchtete Islamisierung von Politik und Gesellschaft auf die Straße.

​​Karakas: Die Türkei ist ein Land, deren Bevölkerung zu 99 Prozent aus Muslimen besteht. Das Land wurde unter Staatsgründer Atatürk und seinen Nachfolgern nie entislamisiert, sondern säkularisiert, indem etwa islamische Symbole aus dem öffentlichen Raum in die Privatsphäre gedrängt wurden. Mit der Normalisierung ist gemeint, dass die Religion in den letzten 25 Jahren wieder stärker in den öffentlichen Raum zurückgekehrt ist.

Viele türkische Meinungsmacher sagen, dass der Nationalismus im Land gefährlicher ist als die angebliche Islamisierung. Sehen Sie das auch so?

Karakas: Eindeutig ja. Der Nationalismus ist die stärkste Geistesbewegung in der Türkei. Deswegen tut man sich auch so schwer damit, den Paragrafen 301, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt, ganz abzuschaffen. Jede Änderung dieses Paragrafen muss Rücksicht darauf nehmen, dass es in der Türkei offiziell nur ein Staatsvolk gibt, und das sind die Türken.

Woher kommt dieser ideologisch motivierte Nationalismus?

Karakas: Er ist dem Gründungsmythos des Landes geschuldet. Nun gibt es auch in Ländern wie Frankreich oder Polen einen ausgeprägten Nationalismus. Doch in der Türkei dient er viel stärker Homogenisierungszwecken. Es ist ein Nationalismus, der Türkentum und türkische Identität und Sprache propagiert unter Negierung der multiethnischen und -religiösen Traditionen des Osmanischen Reiches.

Könnte der Nationalismus somit am Ende die größte Hürde der Türkei auf dem Weg in die EU sein?

Karakas: Ja, es ist vorstellbar, dass die kemalistische Staatselite ab einem bestimmten Punkt der Beitrittsverhandlungen sagt, dass sie den aus ihrer Sicht verheerenden Ausverkauf der nationalen Interessen satt haben und die Notbremse zieht.

Symbolbild EU-Türkei-Fahne; Foto: dpa
Die AKP hat die Türkei auf den Weg nach Europa gebracht; nicht wenige unterstellen der Regierungspartei jedoch eine "hidden agenda".

​​Wird die Türkei in zehn Jahren zur EU gehören?

Karakas: Die Vollmitgliedschaft ist nach jetzigem Stand der Dinge eine Illusion. Der EU-Verhandlungsrahmen sieht ja schon die Möglichkeit von Beitrittsalternativen vor. Die Türkei hat mit ihrer Unterschrift im Verhandlungsrahmen diese Optionen akzeptiert. Sollte sie aber eines Tages tatsächlich der Europäischen Union beitreten können, hat die EU das Recht, eine ganze Reihe dauerhafter Schutzklauseln anzuwenden - diese jedoch würden der Türkei nur eine Mitgliedschaft "Zweiter Klasse" bescheren.

Was sind das für Schutzklauseln?

Karakas: Diese Schutzklauseln sehen vor, dass die Türkei weniger Geld aus den EU-Struktur- und Agrarfonds bekommen würde; zudem könnte jedes EU-Mitgliedsland die Personenfreizügigkeit für türkische Staatsbürger einschränken. Zwar gibt es auch heute schon Schutzklauseln, doch diese dürfen die Dauer von sieben Jahren nicht überschreiten. Im Falle der Türkei können sie dauerhaft sein - das ist einmalig in der Erweiterungsgeschichte und eine klare Diskriminierung der Türkei. Ich plädiere daher für das Modell der Abgestuften Integration, die eine sukzessive Integration der Türkei in supranationale EU-Strukturen vorsieht, ohne die EU zu überdehnen.

Die Türkei bekäme ein Mitentscheidungsrecht ohne Vetomöglichkeiten im EU-Ministerrat. Zudem bliebe die Perspektive auf eine Vollmitgliedschaft erhalten. In der Summe ist dieses Modell attraktiver als die Privilegierte Partnerschaft, die lediglich eine Vertiefung der bisherigen EU-Türkei-Beziehungen hauptsächlich in Wirtschafs- und Sicherheitsfragen vorsieht, ohne dass die Türkei Mitentscheidungsrechte hätte.

Das Interview führte Dogan Michael Ulusoy

© Kölner Stadt-Anzeiger 2008

Cemal Karakas ist Türkeiexperte und Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main. Karakas arbeitete von 2001 bis März 2008 im Europäischen Parlament, seit 2005 ist er bei der HSFK.

Qantara

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