"Uns trennen Welten von der türkischen AKP"

Der Generalsekretär der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), Abdelilah Benkirane, gehört zu den einflussreichsten Politikern in Marokko. Im Qantara-Interview mit Rim Najmi äußert er sich zur Rolle seiner Partei in der politischen Landschaft Marokkos und erklärt, warum die türkische AKP kein Vorbild für seine Partei sein kann.

Abdelilah Benkirane; Foto: www.pjd.ma
"Was uns mit der AKP verbindet, ist die Überzeugung, dass aus der Religion eine positive Kraft erwachsen kann, die dem Gemeinwohl der Gesellschaft zugute kommt", meint Abdelilah Benkirane.

​​ Fast alle politischen Parteien in Marokko haben den Islam als wichtige normative Quelle in ihr Programm aufgenommen. Dennoch wird lediglich Ihre Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) als "islamisch" bezeichnet. Woran liegt das?

Abdelilah Benkirane: Die marokkanischen Parteien behaupten nicht, dass sie den Islam als normative Grundlage für ihr Handeln betrachten. Dennoch respektieren alle den Islam, weil er unsere Staatsreligion ist, denn die marokkanische Verfassung definiert Marokko als einen islamischen Staat. Die PJD ist eine islamische Partei, weil wir zur marokkanischen islamischen Bewegung gehören. Somit bildet der Islam die zentrale Säule unserer Programmatik. Auch deshalb betrachten wir die Probleme in der Gesellschaft in erster Linie durch unsere islamische Perspektive. Wir sind stolz darauf.

Nach den Parlamentswahlen von 2007 wurde Ihre Partei die zweitstärkste Partei in Marokko. Warum wurden Sie nicht Teil der Regierungskoalition? Haben Sie Angst vor der Regierungsverantwortung?

Benkirane: Unsere Partei ist die zweitstärkste Partei in Marokko in Hinblick auf die Zahl ihrer Vertreter im Parlament; betrachtet man die Stimmanteile im Parlament, so erkennt man schnell, dass wir zur stärksten politischen Kraft aufgestiegen sind.

Nach den Parlamentswahlen von 2007 hat uns niemand eine Regierungsbeteiligung ernsthaft angeboten. Wir bekamen in den letzten Jahren lediglich zwei Angebote, Teil einer Regierungskoalition zu werden: die Teilnahme an der Regierung von Herrn Abderrahman El Youssfi 1998 und an der Regierung von Herrn Driss Jettou 2002.

Das erste Angebot wurde damals von unseren Parteimitgliedern aufgrund der geringen Zahl der uns angebotenen Ministerposten abgelehnt, da wir nur einen Ministerposten bekommen sollten. Das zweite Angebot konnten wir aufgrund zahlreicher Konflikte mit der stärksten Partei nach dem Wahlen von 2002, der sozialdemokratischen USFP (Union Socialiste des Forces Populaires), nicht annehmen.

Wie würden Sie Ihre Partei in der marokkanischen Parteienlandschaft verorten? Und was unterscheidet Sie von anderen islamischen bzw. islamistischen Parteien im arabischen Raum?

Benkirane: Die PJD ist eine islamisch orientierte Partei, die in einem spezifisch marokkanischen Kontext agiert. Wie Sie sicherlich wissen, ist das marokkanische Herrschaftssystem den anderen arabischen Regimes ähnlich, gleichzeitig weist es bestimmte historische Besonderheiten auf.

Zwei Marokkanerinnen geben in Casablanca ihre Stimme an der Wahlurne ab; Foto: AP
Wahlen in Marokko: Benkirane versteht den Islam nicht als "statische Religion", sondern als "Werteordnung, die aus verschiedenen Ideen, Vorstellungen und Konzepten besteht".

​​ Die PJD wurde von den Muslimbrüdern beeinflusst, vor allem in ihren Anfängen. Heute agiert sie im verfassungsrechtlichen Rahmen des marokkanischen Staats als eigenständige aktive Partei. Unsere Partei distanziert sich von Extremismus und Ausgrenzung von anderen. Wir sind als politische Kraft offen und bereit, mit allen politischen Akteuren für das Gemeinwohl unseres Landes zusammenzuarbeiten.

Glauben Sie, dass die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung praktikable Lösungen für die Probleme der marokkanischen Gesellschaft anbieten kann, jenseits ihrer Religions- und Moralvorstellung?

Benkirane: Wir versuchen, nicht nur die religiösen und moralischen Probleme zu lösen, sondern auch die anderen Hauptprobleme unserer Gesellschaft wie Ausbildungsprobleme, Mängel in der Justiz und im Gesundheitswesen, Arbeitslosigkeit etc.

Das Ziel unserer Partei ist, dem Gemeinwohl der Gesellschaft zu dienen, unter einer Bedingung, dass unsere Politikansätze dem Islam nicht widersprechen. Aber der Islam ist keine statische Religion, sondern eine Werteordnung, die aus verschiedenen Ideen, Vorstellungen und Konzepten besteht.

Dennoch darf man von uns nicht erwarten, dass wir zum Beispiel die Prostitution legalisieren, um die finanziellen Problemen unseres Landes zu lösen; das wäre mit uns nicht zu machen. Man darf auch von uns nicht erwarten, dass wir die Gründung von Homosexualitätsvereinen im Namen der Menschenrechte akzeptieren. Dies würde gegen unsere religiösen Normen verstoßen. Ansonst sind unsere Vorstellungen offen und ähneln manchmal denen der liberalen und der sozialistischen Parteien.

Anhängerinnen der PJD, 2007: Foto: AP
"Die Erfahrung lehrt, dass im arabischen Raum kein Weg an islamischen Parteien vorbeigeht, weil diese Parteien die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen", meint Benkirane.

​​ Aufgrund Ihrer islamischen Orientierung sprechen einige Medien und Experten in Marokko von einer "Ähnlichkeit" zwischen Ihrer Partei und der türkischen Regierungspartei AKP. Ist dieser Vergleich aus Ihrer Sicht berechtigt?

Benkirane: Zumindest haben die beiden Parteien auf Arabisch denselben Namen. Aber ich muss zugeben, dass die türkische AKP eine größere Partei als die PJD ist. Die AKP ist vor allem eine große Partei in Hinblick auf ihre politischen Kompetenzen und Leistungen. Und ehrlich gesagt: Die türkische AKP ist im Vergleich zur PJD progressiv und fortgeschritten; uns trennen Welten von ihrem politischem Gewicht.

Wir sollten aber in diesem Vergleich die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in Marokko und in der Türkei nicht außer Acht lassen. Der Islam ist in Marokko formell die Staatsreligion, die Türkei ist hingegen eine säkular verfasste Republik. Auch klassische Indikatoren wie Wirtschaft, Bevölkerung und die Größe der beiden Länder sind kaum vergleichbar.

Was uns verbindet, ist die Überzeugung, dass aus der Religion eine positive Kraft erwachsen kann, die dem Gemeinwohl der Gesellschaft zugute kommt.

Wie bewerten Sie den Umgang europäischer Staaten mit den islamisch orientierten Parteien im arabischen Raum?

Benkirane: Leider sind europäische Vertreter noch in einer falschen Logik gefangen; diese betrachtet alles, was ein islamisches Etikett trägt, als etwas Negatives. Doch die Erfahrung lehrt, dass im arabischen Raum kein Weg an islamischen Parteien vorbeigeht, weil diese Parteien die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen. Zudem respektieren die meisten islamischen Parteien die Spielregeln der Demokratie mehr als die anderen Parteien.

Ich glaube aber, dass diese europäische Haltung sich langsam in Richtung einer Normalisierung im Umgang mit islamischen Akteuren ändern wird.

Interview: Rim Najmi

© Qantara.de 2010

Übersetzung aus dem Arabischen von Rim Najmi und Loay Mudhoon

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Qantara.de

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