"Mit offenen Händen auf Migranten zugehen"

Das traditionelle Arbeiterviertel "Gallus" in Frankfurt gilt als sozialer Brennpunkt. Hier arbeitet der Pädagoge und Konfliktberater Djawad Nadalian. Diana Fröhlich sprach mit ihm über die Reaktionen der Jugendlichen auf die Unruhen in Paris.

Herr Nadalian, Sie begegnen im Jugendhaus Gallus täglich jungen Migranten, die ähnliche Probleme haben wie die Jugendlichen in Frankreich. Sie beherrschen die Sprache nicht, haben keinen Schulabschluss und deshalb auch keine Aussicht auf einen Ausbildungsplatz. Wie haben die Jugendlichen in ihrem Viertel auf die Krawalle in Frankreich reagiert?

Djawad Nadalian: Sie können zum Teil sehr gut nachvollziehen, warum die Jugendlichen in Paris Unruhe stiften und Autos in Brand setzen. Warum machen die jungen Franzosen das überhaupt? Sie werden ständig mit Vorurteilen konfrontiert, egal, welchen Pass sie besitzen.

Und genauso geht es den Migranten hier bei uns. Auch sie werden häufig benachteiligt, vor allem wenn es um Ausbildungsplätze geht. Selbst wenn die Enkelkinder der Gastarbeiter aus Italien, der Türkei oder Portugal bereits hier geboren wurden und über einen deutschen Personalausweis verfügen, so begegnen ihnen die hier lebenden Deutschen noch immer mit Vorurteilen.

Doch nicht alle Jugendlichen identifizieren sich mit denen in Paris. Hier im Jugendhaus gibt es auch einige, die die Krawallmacher zutiefst verachten.

Können Sie sich vorstellen, dass es auch in Deutschland zu Krawallen kommen könnte, die denen in Frankreich ähneln?

Nadalian: Ich denke schon, auch wenn es noch Jahre dauern kann. Was es in Frankfurt aber schon hin und wieder gibt, sind Einzeltäter. Erst vor wenigen Monaten hat ein junger Mann die Reifen von Polizeiautos zerstochen. Die Polizei fürchtete danach Straßenkämpfe im Viertel. Doch bevor der Täter andere Jugendliche mit reinziehen konnte, haben wir es geschafft, ihn mit pädagogischer Hilfe wieder zu beruhigen.

Was hat ihn dazu getrieben?

Nadalian: Das ist doch klar: Perspektivlosigkeit. Keine Ausbildung, kein Job, kaum Geld, keine Zukunft – und natürlich der Spaß, die Mächtigen zu ärgern und zu sehen, ob sie sich auf einen Machtkampf einlassen. Er wollte einfach auf sich und seine Probleme aufmerksam machen.

Dazu kam noch ein persönliches Schicksal. Seine Mutter hatte die Familie verlassen, als er gerade zwei Jahre alt war, und sein Vater war auch nicht immer der beste Papi der Welt. Ich denke, in solchen Fällen ist es enorm wichtig, menschlich zu reagieren. Nur dann nehmen die Jugendlichen pädagogische Hilfe in Anspruch.

Franfurter Skyline; Foto: AP
Keine Ausbildung, kein Job, wenig Geld - jugendliche Migranten in Deutschland haben kaum Perspektiven

​​Welche Angebote gibt es im Jugendhaus Gallus?

Nadalian: Wer Probleme in der Schule oder im Job hat, Streit mit den Eltern oder Freunden, dem wird geholfen. Eigentlich ist das Jugendhaus für 14- bis 21-Jährige geöffnet, doch wir haben auch junge Menschen bis 30 hier, die unser Angebot in Anspruch nehmen. Wir machen Musik, gehen zusammen ins Kino, richten sportliche Wettkämpfe aus und essen mittags gemeinsam.

Was ist das Gallus überhaupt für ein Viertel? Kann man es mit Pariser Vororten vergleichen?

Nadalian: Hier haben rund die Hälfte der 25.000 Einwohner ausländische Eltern. Dabei dominiert aber keine einzelne Nationalität das Geschehen im Viertel, sondern hier leben sehr viele verschiedene Kulturen Tür an Tür. Ab und an gibt es schon eine Straße, die vor allem von Marokkanern bewohnt wird, aber im Großen und Ganzen haben wir eine sehr gute Mischung.

Das ist doch in Frankreich ganz anders. Dort leben die Menschen afrikanischer Herkunft in den Ghettos der Vorstädte. Ist doch klar, dass sich die Jugendlichen dort schneller und besser organisieren können. Und dann sind die Krawalle schon programmiert.

Wir haben in unserem Viertel glücklicherweise nur wenige Hochhäuser, zudem liegen wir mitten in der Stadt. Hier ist Leben, hier tut sich etwas. In Frankfurts Nachbarstadt Offenbach allerdings ist die Gefahr einer organisierten Kriminalität schon etwas größer. Dort gibt es viele Hochhäuser, in denen die Migranten zusammen leben.

Ein ganz anderer Punkt ist die Vergangenheit beider Länder. Deutschland war nie eine Kolonialmacht, die Migranten hier sind zum größten Teil Gastarbeiter. Und dessen sind sich auch die Jugendlichen bewusst. Sie haben verinnerlicht, dass sie nie gleichberechtigt sein werden.

Die ersten Nachahmer der Unruhen in Paris gab es in Berlin, Köln und Bremen. Was wollten diese Täter bewirken und was sollte die Regierung tun, damit es in Deutschland nicht zu Unruhen kommt?

Nadalian: Die Jugendlichen hier wollten sich solidarisch zeigen. Die Medien geben den jungen Menschen in aller Welt vor allem eins: ein indirektes Feedback. Es ist, als wollten die Jugendlichen in Frankreich sagen: Seht, ihr könnt das auch, macht es uns nach!

Zudem sind die Politiker unsicher geworden. Deshalb bin ich der Meinung, dass auch in einigen Stadtteilen Deutschlands einige wenige Autos brennen werden. Zu Unruhen in großem Stil wird es aber jetzt nicht kommen.

Was die Regierung tun sollte? Genau das, was der französischen Regierung bislang nicht gelungen ist. Mit offenen Händen und ohne Vorurteile auf die Migranten zugehen.

Das Gespräch führte Diana Fröhlich

© DIE ZEIT, 45/2005

Qantara.de

Unruhen in Frankreich
Fatwa gegen Revolten
Während Frankreichs rechte Presse hinter den Ausschreitungen radikale Islamisten wittert und die Konflikte in den Banlieues weiter anheizt, treten dort muslimische Verbände immer deutlicher als Ordnungshüter in Erscheinung – im Interesse der französischen Politik. Über Ursachen und Hintergründe der Krawalle in Frankreich berichtet Bernhard Schmid

Amin Maalouf zu den Unruhen in Frankreich:
"Trotz gemeinsamer Sprache gibt es keine Verständigung"
Seit über einer Woche liefern sich vor allem junge nordafrikanische Migranten Straßenschlachten mit der Polizei in den Trabantenstädten der französischen Metropolen. Für den in Frankreich lebenden libanesischen Schriftsteller Amin Maalouf ist dies ein deutliches Anzeichen für eine seit langem vernachlässigte Integrationspolitik in Frankreich.

www

DIE ZEIT